Re: (Meinung) Es muß sein
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Beitrag von Rainer vom Juli 12. 2002 um 09:24:57:
Als Antwort zu: (Meinung) Es muß sein geschrieben von Jonas am Juli 12. 2002 um 01:46:07:
Watt gegen Mitt-Vierziger? Pass auf, ey ... :-))
Ich bin noch gerade eben Mitt-Vierziger, ab Ende des Monats nicht mehr. Aber ich bin kein '68er', da war ich noch zu jung, habe nur damals mitbekommen, wie Benno erschossen wurde, die Stories mit dem Schah, Miniröcke und die Beatles-Singles. Nein, verklären wollte ich diese Zeit nicht, es war nicht alles besser. 'Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren', das galt damals noch mehr als heute. Mein Vater war kein Spießer, er war strammer Sozialdemokrat und Gewerkschaftler, trat für Toleranz und Offenheit ein. Auch die Sozialdemokraten von heute sind nicht mehr die von 1970.
Trotzdem zurück zur Frage: was war denn damals so anders? Und was war besser? Diese Frage ist oft diskutiert worden, hier im Forum, in der Raucherecke im Office, beim Grillen mit den Nachbarn. Und ich denke, es gibt doch Antworten, nur glaube ich auch, dass einige Leute sie nicht verstehen werden. Meine Kiddies würden sie auch nicht verstehen.
Ad 1) Wir haben uns unsere Musik hart erkämpfen müssen. Heute Airplay-fähige Sachen waren damals akustische Staatsverbrechen. Jimi, Led Zeppelin, Cream, Ten Years After, Nice, ein bisschen Feedback und eine Lead-Gitarre mit saftigem Gain reichten als Provokation für die Erwachsenen. Es gab keine allmächtige Industrie, die uns die Klamotten in den Arsch schob und die uns hinterher lief. Wir haben kämpfen müssen, gegen Widerstände, die den Jungs und Mädchens von heute unbekannt sind.
Ad 2) Es gab auch kein Musik Produktiv und Thomann, vernünftige Instrumente und Amps waren für uns Schüler in unendlicher Reichweite. Eine gebrauchte SG kostete so um die 1800 Schleifen (DM, natürlich), eine gebrauchte Tele bekam man manchmal für 1500 Mack. Was zu bekommen war, für uns bezahlbar, waren Hertiecaster und Grundig Blackface. Auch hier mussten wir kämpfen, um Minimal-Ausstattung. 1.917 Lehrbücher für Gitarre/Bass? Peter Bursch, ein paar handgeschriebene Transkriptionen gab es. Das Internet existierte noch nicht. Ethernet kam auf, in den Labors der US Army. Wir lebten und arbeiteten im Untergrund, saßen mit unseren Instrumenten in der Sinn-Passage, am Sonntag, weil es keine Proberäume gab.
Ad 3) Die heute 20-Jährigen leben in einer Gesellschaft, die einerseits relativ frei und tolerant, aber auch abgestumpft und gleichgültig ist, es gehört so zusammen. Vergleiche ich die Situation heute zwischen mir und meinen Kindern, und damals zwischen mir und meinen Eltern, trotz aller relativen Freiheiten meinerseits: was sind das für arme Schweine heute. Es gibt nichts mehr zu erkämpfen, alles ist clean and convenient, alles verfübar, alles machbar. Provozieren? Wie denn noch? Back to the music, wie kommt man denn aus dem gleichmachenden Schleim heraus? Slipknot, Rammstein, Marilyn Manson (ist das richtig so?), da muss man schon erheblichen Aufwand treiben, und musikalisch verdammt nahe der Bankrotterklärung sein, um noch aufzufallen, noch zu provozieren. Ihr Jungs lebt in einem Vakuum, Ihr wisst es nur nicht. Weil Ihr nichts anderes kennt. Da müssen wir Eltern uns auch an die Nase packen, aber was sollten wir tun? (Altbekannter Satz, nicht?)
Ad 4) Gibt es sie noch heute, die gute, handgemachte Musik? Jawoll, Sir! Aber ganz versteckt, nicht leicht zu finden. Sie ist modern, aktuell, auf den Stand der Technik. Meine letzten Favoriten: Niacin, Magellan, Spock's Beard, Liquid Tension Experiment, Steve Morse Band, Transatlantic, ich brauche nur den Magna Carta-Katalog durchzugehen. ProgRock ist nicht tot, im Gegenteil, er ist lebendiger denn je. Die letzte Scheibe von Mark Knopfler, Sailing To Philadelphia ist in meine persönlichen Top Ten aufgenommen, erst vor kurzem. Neben Carpet Crawlers und Lucky Man, Bridge Over Troubled Water. Aaaaaaaber .... die AS-Altsäcke mögen mir verzeihen, dass ich das wieder auf bringe, das alles wird zugematscht von Tittney Spears und arschwackelnden und tittenschwingenden Tussis, herumhüppenden DJs und Rappern, die mental noch nicht über die Grenze ihres Bundeslandes herausgekommen sind. Diese Industrie, die alles glatt bügelt, wo es nur um die schnelle Mark geht, und darum, den Kiddies den letzten Euro aus den Taschen zu lutschen, das bringt uns Altsäcke so in Rage!
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Und so komme ich zum Fazit. Wenn Leute meiner Generation von den alten Zeiten schwärmen, dann ist das für Jugendliche heute nicht zu verstehen. So wie wir unsere Oldies nicht verstanden haben. Wir konnten auch nicht nachvollziehen, was diese Kriegsgeneration mit gemacht hat, das Grauen des Krieges ist für uns eine unbekannte Welt. Ich hoffe für uns alle, das das so auch bleibt.
Jede Generation hat es irgendwo einfacher als die vorherige. Wir besser als unsere Eltern, Ihr besser als wir. Aber schaut man wirklich dahinter, was denn besser? Dass uns immer mehr aus der Hand genommen wird, wir immer unmündiger gehalten werden? Stimmvieh, Konsumenten, Zielpublikum, marketing targetgroups, A/B/C-Klassen-Werbung, Gen-optimierte Tomaten und Kinder, Hormone im Nutella und BSE im Straußenfleisch, da sehnt man sich manchmal wieder danach, die alten Probleme zu haben, wo kriege ich einen Satz neuer Saiten her, die ECL86 in meinem Gitarren-Radio ist hin, und es ist Samstag 13:01H. Ihr habt es nicht einfacher als wir, nicht wirklich, ich möchte nicht in Eurer Haut stecken. Ich kriege noch meine volle Rente, seht man zu, wo Ihr dann bleibt. Und wie Ihr die Megatonnen Atom-Müll und die Ozon-Löcher in den Griff kriegt. Und wenn Ihr uns schon so auf den Sack geht, was werdet Ihr erst mal einen Trouble mit Eurem Nachwuchs haben, noch verzogener und egozentrisch, noch konsum-orientierter und schlaffer. Ich laufe in der Woche mindestens 20km und kann 80 Situps hintereinander. Wisst Ihr noch, was Situps sind? :-))
Und zuletzt: dürfen wir nicht auch ein bisschen neidisch sein, wir Mittvierziger? Dass Ihr es so easy habt, dass Ihr nicht zu kämpfen braucht, dass man heute noch Samstags um 15:30h neue Saiten bekommt? Dass Ihr Teles und Paulas spielt, und keine Les Karstadt und Loewe Opta Amps?
Und doch, da kann ich mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen: Ihr wisst gar nicht, was Euch entgeht, Ihr Rotärsche .... ;-))
In diesem Sinne, und nix für ungut,
Rainer
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