Widerspruch !!!! (etwas länger)


[ verfasste Antworten ] [ Thread-Anfang ] [ Aussensaiter-Forum ]

Beitrag von Michael vom Juli 12. 2002 um 13:40:27:

Als Antwort zu: Re: (Meinung) Es muß sein geschrieben von Rainer am Juli 12. 2002 um 09:24:57:

Hallo Rainer,

als Endvierziger, der all die Irrungen und Wirrungen speziell der siebziger Jahre z.T. in "leitender Funktion", was diverse, manchmal im Rückblick etwas fragwürdige Aktionen (bitte erspart mir detailliertere Erläuterungen) anbelangt, er-,durch- und überlebt hat, kann ich deine Ausführungen nicht unwidersprochen stehen lassen.

zu Ad 1):

"Es gab keine allmächtige Industrie, die uns die Klamotten in den Arsch schob und die uns hinterher lief. Wir haben kämpfen müssen, gegen Widerstände, die den Jungs und Mädchens von heute unbekannt sind."

Sicher gab es diese allmächtige Industrie im Sektor der populären Musik (bitte mal an den Rock'n'Roll-Boom, an Sinatra usw. denken). Wir hatten damals nur Glück, dass die Plattenindustrie im Hinblick dieser neuen Trends in der populären Musik nicht genau wusste, was denn nun beim Publikum ankommen könnte und was nicht, wie lange dieser Rockmusik-Trend anhalten könnte und wie man das Zeug am besten marketingtechnisch verpackt, da es ein wenig schwierig war, genaue Zielgruppenanalysen vorzunehmen (das funktionierte erst, nachdem genau unsere Generation in dieser Industrie beruflich Fuss fasste..).
Kurz gesagt: es wurde halt mal alles produziert, was da war, denn niemand wollte einen Trend verpassen. Gruppen und Einzelkünstler wie Doors, Hendrix, Joplin, Pink Floyd, eigentlich alles, was heute als Klassiker gehandelt wird und gewissermassen zur "Standardliteratur" gezählt wird, ist ausschliesslich nur deshalb auf den Markt geschmissen worden. Die hätten heute alle keine Chance, weil ihre Musik nicht als "marktverträglich" eingeschätzt werden würde. Und (machen wir uns da doch nichts vor): es gab auch furchtbar viel unsäglichen Mist.
Ausserdem brauchten die uns doch gar nicht hinterherlaufen. Das Zeug wurde doch gekauft wie warme Semmeln. Jeder war zufrieden: die Plattenindustrie, die sich (Flops gibts natürlich immer) im grossen und ganzen dumm und dämlich verdiente, wir , die die Musik geliefert bekamen, die wir haben wollten. Allenthalben Friede, Freude, Eierkuchen.
Natürlich ebbt jeder Boom mal ab, wird Mainstream, gesellschaftlich anerkannt und ist mal irgendwann kein Selbstläufer mehr und genau an diesem Punkt kamen dann wir (ich meine natürlich Vertreter genau unserer Generation) ins Spiel, die die Trends, die du so anprangerst erst gestzt haben.
Man sollte auch mal, in Anbetracht dieser Lage, sich Gedanken darüber machen, ob es denn stimmt, dass die Musik früher besser war. Könnte es denn nicht auch sein, dass die wirklich guten Leute überhaupt keine Chance mehr haben, da sie nicht in die Marketingstrategien passen ?

zu Ad 2)

Die Fähigkeit gute Musik zu machen ist glücklicherweise nicht davon abhängig, wie gut die Versorgung von Unterrichtsmaterialien und Equipment ist. Wäre das so, wie erklärst du dir dann Phänomene wie Robert Johnson, Muddy Waters, Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane etc. ????
Ich weiss ja nun nicht, in welcher Gegend ihr eure ersten musikalischen Gehversuche gemacht habt, aber Probemöglichkeiten haben wir eigentlich immer gefunden (und wenn's in irgendeiner Scheune war). Sinn-Passagen u.ä. waren eigentlich nur dann angesagt, wenn man mal richtig auf den Putz hauen wollte (quasi als Abenteuerurlaub mit der Polizei als Animateur).

zu Ad 3)

Zitate:
"Wir haben kämpfen müssen..", "Auch hier mussten wir kämpfen..", "Es gibt nichts mehr zu erkämpfen..", "dass Ihr nicht zu kämpfen braucht..", "Provozieren? Wie denn noch?.."

He, was soll das ???? Kämpfen um des Kämpfen willens ? Provozieren, wen, mit welchem Ziel ?

Du hast damals (das entnehme ich jetzt mal deinen Ausführungen, bitte Korrektur, wenn ich falsch liegen sollte), genau das was wir jetzt in unserer Gesellschaft vorfinden, als Ziel deines "Kampfes", deiner "Provokation" gehabt: eine Gesellschaft, die "relativ frei und tolerant" ist, in der (s. auch Ad 2) "alles verfübar, alles machbar" ist. Es ist also doch einiges bewegt worden in den letzten 3 Jahrzehnten, ohne den Jetztzustand als den einzig seeligmachenden preisen zu wollen. Unsere Gesellschaft noch Mitte der 60er war durch das wilhelminische Zeitalter geprägt (Adenauer z.B. war Zeit eines Lebens eigentlich Monarchist). Man konnte damals wacker für eine "bessere" Gesellschaft kämpfen, für mehr Toleranz etc. Wir waren auch (historisch im Rückblick betrachtet) im Recht und hatten den unschätzbaren Vorteil, machbare Alternativen aufzeigen zu können.

Nur: jede Generation steht vor anderen Problemen und muss auch andere Lösungen/andere Alternativen entwickeln. In Anbetracht der heutigen, auch globalen Probleme, vor denen wir stehen (Arbeitslosigkeit,wirtschaftl. Globalisierung, Klimaveränderung, Terrorismus, etc.) lebten wir damals doch auf einer Insel der Glückseligen (globalpolitisch alles im Griff: Kalter Krieg, aber geordnet; wirtschaftlich auch so weit alles in Ordnung; Zukunftsängste irgendwelcher Art: ach was).
Damals musste in unserer Gesellschaft etwas verändert werden, da war "Kämpfen", "Provokation" ein durchaus probates Mittel, nur: müssen die Ziele der damaligen Generation auch die der jetzigen sein ?

Randbemerkung: So wie du dich über "Slipknot, Rammstein, Marilyn Manson" aufregst, taugt das durchaus als Provokation.

zu Ad 4)

"herumhüppenden DJs und Rappern, die mental noch nicht über die Grenze ihres Bundeslandes herausgekommen sind.."

Das sind so die Verallgemeinerungen, die mich komplett auf die Palme bringen. Kannst du dich an die Äusserungen unserer älteren Mitbürgern vor 30 Jahren erinnern ? "Diese Negermusik gehört verboten..., alle Langhaarigen müsste man...., etc." Merkst du eigentlich nicht, dass du genau das gleiche machst ?
Im HipHop, Rap, Techno (Ambience, Trance, etc.) gibt es hervorragende ernstzunehmende Musiker (das Zeug klingt halt ein bischen anders, als du alter Sack das gerne hätten - wie es damals in den Sechzigern anderen alten Säcken gegangen ist :-)). Auch beeinflussen diese Musikstile immer mehr andere Musiker (als eines von vielen Beispielen mal unbedingt anhören: "Khmer" von Nils Petter Molvaer, einem norwegischen Jazztrompeter).

zu Fazit)

"Jede Generation hat es irgendwo einfacher als die vorherige..."

Schlicht falsch. Jede Generation hat andere Probleme, die sie (auch für folgende Generationen) lösen muss.


So, das war's erst mal (ich zieh' schon mal den Kopf ein)

Michael








verfasste Antworten:



Dieser Beitrag ist älter als 3 Monate und kann nicht mehr beantwortet werden.