Re: Widerspruch !!!! (etwas länger, und jetzt richtig)


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Beitrag von Rainer vom Juli 15. 2002 um 12:49:34:

Als Antwort zu: Widerspruch !!!! (etwas länger) geschrieben von Michael am Juli 12. 2002 um 13:40:27:

als Endvierziger, der all die Irrungen und Wirrungen speziell der siebziger Jahre z.T. in "leitender Funktion", was diverse, manchmal im Rückblick etwas fragwürdige Aktionen (bitte erspart mir detailliertere Erläuterungen) anbelangt, er-,durch- und überlebt hat, kann ich deine Ausführungen nicht unwidersprochen stehen lassen.

Das ist prima, Michael, ist doch fein, wie lebendig es in einem so alten Forum noch zugehen kann :-))

Sicher gab es diese allmächtige Industrie im Sektor der populären Musik (bitte mal an den Rock'n'Roll-Boom, an Sinatra usw. denken). Wir hatten damals nur Glück, dass die Plattenindustrie im Hinblick dieser neuen Trends in der populären Musik nicht genau wusste, was denn nun beim Publikum ankommen könnte und was nicht, ...

Und das war unser strategischer Vorteil! Die A&Rs damals tappten im Dunkeln, und wir konnten uns heraussuchen, was uns passte. Wir brauchten nicht in den USA zu ordern, obskure CD-Läden in Kreuzberg zu durchforsten oder uns die Füße platt laufen. Das war einfacher.

Die hätten heute alle keine Chance, weil ihre Musik nicht als "marktverträglich" eingeschätzt werden würde. Und (machen wir uns da doch nichts vor): es gab auch furchtbar viel unsäglichen Mist.

Meinst Du jetzt Wallenstein oder Guru Guru? ;-) Guru Guru war geil.

Ich habe doch gar nicht gesagt, dass die Musik damals besser war! Ich habe stattdessen darauf verwiesen, dass als Beispiel der Progressive Rock heute in viel schillernderen Farben und Varianten daher kommt als in den Siebzigern, wo er angeblich so geblüht hat.

Natürlich ebbt jeder Boom mal ab, wird Mainstream, gesellschaftlich anerkannt und ist mal irgendwann kein Selbstläufer mehr und genau an diesem Punkt kamen dann wir (ich meine natürlich Vertreter genau unserer Generation) ins Spiel, die die Trends, die du so anprangerst erst gestzt haben.

Das war mein Kritikpunkt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt verlagerte sich der Ausgangspunkt dieser neuen Trends. Waren es in den früheren Jahren die Jugendlichen, und nicht zuletzt die Musiker, die neue Trends setzten, denen dann die Industrie folgte, setzt heute die Industrie die Trends, und die Konsumenten folgen. Und das finde ich 'verrückt'.

Man sollte auch mal, in Anbetracht dieser Lage, sich Gedanken darüber machen, ob es denn stimmt, dass die Musik früher besser war.

Habe ich nicht gesagt ...

Die Fähigkeit gute Musik zu machen ist glücklicherweise nicht davon abhängig, wie gut die Versorgung von Unterrichtsmaterialien und Equipment ist. Wäre das so, wie erklärst du dir dann Phänomene wie Robert Johnson, Muddy Waters, Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane etc. ????

Bei Equipment bin ich teilweise bei Dir. Ob ein guter Song über einen Park G15B kommt, oder über einen EBS-Stack, ist nicht entscheidend für die Güte des Songs. Was allerdings Unterrichts-Material angeht, ist (auch) meine eigene Erfahrung anders. Mich hat die krampfhafte Suche nach simplen Informationen früher genervt. Mit Internet und den großen Musikhäusern ist der Einstieg und das Fortkommen heute einfacher. Ist aber auch keine Garantie.

Ich weiss ja nun nicht, in welcher Gegend ihr eure ersten musikalischen Gehversuche gemacht habt, aber Probemöglichkeiten haben wir eigentlich immer gefunden (und wenn's in irgendeiner Scheune war).

Scheunen gab es im Herzen des Ruhrgebietes leider nicht. Unser einziger Proberaum waren unsere Zimmer, gelegentlich mal ein leerstehendes Haus.

He, was soll das ???? Kämpfen um des Kämpfen willens ? Provozieren, wen, mit welchem Ziel ?

Oder besser gar nicht mehr kämpfen? Laufen lassen? Is-Doch-Egal-Stimmung? Bisher hat jede Generation mit ihren Altvorderen im Clinch gelegen, die eine mehr, die andere weniger. Dabei ging es um persönmliche Freiheiten, um politische Einstellungen und Programme, um andere Musik. Es gäbe vieles, um das es sich auch heute lohnen würde zu kämpfen. Für eine bessere Umwelt mit weniger Dreck und Müll. Stattdessen schleppen die Kiddies tonnenweise River-Cola in Dosen aus dem ALDI (ich hoffe auf den 1.1.2003 :-)). Um eine Abkehr vom Konsum als Gesellschaftsziel, um eine neue Politik, die den Bürger, nicht den Politiker und die Industrie als Kern hat. Man könnte auch dafür kämpfen, dass Kinder wieder Zuwendung und Würdigung im Elternhaus und in der Schule bekommen, dann hätte PISA so nicht ausgesehen, und Erfurt hätte vielleicht nicht so geschehen müssen.

Stattdessen hat sich aus meiner Sicht eine erschreckende Wischi-Waschi-Mentalität ausgebreitet, die letzte Schulpflegschaft ist mir immer noch ein Grauen (man hatte die Idee, aus Kostengründen nicht mehr so viele Atlanten zu kaufen, sondern Lizenzen von Microsoft Encarta zu erwerben und die Kids noch mehr vor den PC zu setzen).

Doch, Michael, ich sehe viele Fronten, an denen hart zu kämpfen wäre, nicht als Selbstzweck. Und ich habe in den letzten Jahren wieder begonnen zu kämpfen, mich deshalb in der Schule engagiert, spreche mit meinen Kindern über diese Themen. Doch die Resonanz ist gering.

Du hast damals (das entnehme ich jetzt mal deinen Ausführungen, bitte Korrektur, wenn ich falsch liegen sollte), genau das was wir jetzt in unserer Gesellschaft vorfinden, als Ziel deines "Kampfes", deiner "Provokation" gehabt: eine Gesellschaft, die "relativ frei und tolerant" ist, in der (s. auch Ad 2) "alles verfübar, alles machbar" ist.

Ich fühle mich da eher wie der Zauberlehrling. Genau das, was heute statt findet, ist das, was ich eben nicht wollte. Und ich denke, dass eine Kurskorrektur dringend notwendig ist, die aber nicht von selbst geschieht. Wir brauchen wieder eine erkleckliche Gruppe von Leuten, die Finger in Wunden legt, die laut und unüberhörbar ist. Und eine solche weitere Veränderung wäre Sache der Jugend. Aber was macht die? Steht mit Handies am Ohr in der Stadt rum und trägt ihre Arsch-Hänge-Hosen spazieren.

Das das nicht 100% ist, weiß ich auch. Aber es sind zu wenige für einen Neuansatz. Und ich fürchte, es werden immer weniger.

Wir waren auch (historisch im Rückblick betrachtet) im Recht und hatten den unschätzbaren Vorteil, machbare Alternativen aufzeigen zu können.

Ja, und da triffst Du genau den Punkt! Wir haben Alternativen angeboten, haben gefragt 'Könnte man das nicht auch so machen?'. Wir haben aktiv an einer Veränderung gearbeitet, und haben sie auch erreicht, nur nicht so, wie wie uns das gedacht hatten. Ich pinkle auch beliebig unserer Generation an Bein und Schlimmeren: wir sind es, die unsere Kids so eingelullt haben, die kaufen sich ja Handies und Gameboys nicht vom Taschengeld. Und ich selbst könnte mir manchmal in den Hintern beißen.

Nur: jede Generation steht vor anderen Problemen und muss auch andere Lösungen/andere Alternativen entwickeln.

Tut diese junge Generation das? Sieht mir nicht so aus.

In Anbetracht der heutigen, auch globalen Probleme, vor denen wir stehen (Arbeitslosigkeit,wirtschaftl. Globalisierung, Klimaveränderung, Terrorismus, etc.) lebten wir damals doch auf einer Insel der Glückseligen (globalpolitisch alles im Griff: Kalter Krieg, aber geordnet; wirtschaftlich auch so weit alles in Ordnung; Zukunftsängste irgendwelcher Art: ach was).

Und deshalb gerade. Vielleicht ist es an der Zeit, mal wieder ein bisschen Randale zu machen. Kann ich nur leider nicht, mein Rheuma ... :-))

Damals musste in unserer Gesellschaft etwas verändert werden, da war "Kämpfen", "Provokation" ein durchaus probates Mittel, nur: müssen die Ziele der damaligen Generation auch die der jetzigen sein ?

Nö. Aber was sind deren Ziele? Neue Handygeneration mit Farbdisplay und MP3-Player? Lullis ...

Randbemerkung: So wie du dich über "Slipknot, Rammstein, Marilyn Manson" aufregst, taugt das durchaus als Provokation.

Nur nicht bei denen, die es betreffen würde ...

Kannst du dich an die Äusserungen unserer älteren Mitbürgern vor 30 Jahren erinnern ? "Diese Negermusik gehört verboten..., alle Langhaarigen müsste man...., etc." Merkst du eigentlich nicht, dass du genau das gleiche machst ?

Nein, weil ich nicht die bin. Solange sich mein Sohnemann Platten von Rammstein und Linkin Park holen darf, trifft mich der Vorwurf der Intoleranz nicht wirklich.

Die andere Version, nämlich die endlose und grenzenlose Toleranz und das Wegsehen, wäre keine Alternative. Meinungsäußerung an sich ist noch kein Grund für Unterstellung, genau so wenig wie es ausreichend ist, mir den Holocaust anzuhängen nur weil ich Deutscher bin.

Im HipHop, Rap, Techno (Ambience, Trance, etc.) gibt es hervorragende ernstzunehmende Musiker (das Zeug klingt halt ein bischen anders, als du alter Sack das gerne hätten - wie es damals in den Sechzigern anderen alten Säcken gegangen ist :-)).

Hätte man mit mir diskutiert, wäre es das eine erste Basis gewesen. Hat man aber nicht. Du meinst jetzt aber nicht das, was auf MTV und VIVA so läuft?

Auch beeinflussen diese Musikstile immer mehr andere Musiker (als eines von vielen Beispielen mal unbedingt anhören: "Khmer" von Nils Petter Molvaer, einem norwegischen Jazztrompeter).

Mir bekannt. Ist aber nicht das Gleiche. Beeinflussung ist die eine Geschichte. Simple Übernahme undendloses Nachproduzieren ist eine andere. Zappa und Emerson sind auch beeinflusst worden. Die 17.899te HipHop-Pladde bring aber keine neuen Aspekte mehr.

So, das war's erst mal (ich zieh' schon mal den Kopf ein)

Ich habe keineswegs behauptet, früher wäre alles besser gewesen, nichts lag mir ferner. Was ich gesagt habe (oder wenigstens habe sagen wollen :-)) ist, dass es eine gute Grundlage für eine offene, tolerante Gesellchaft und Musik gegeben hätte. Warum es zu einer gleichgültigen und oberflächlichen Gesellschaft geführt hat, kann auch ich nicht erklären.

Was ich für notwendig halte ist ein Neuorientierung. Die können wir Altsäcke aber nicht mehr gut einleiten, weil unser Zug schon reichlich abgefahren ist. Umso erschreckender finde ich, dass Jugendliche unseren Spuren folgen, die ja nicht ihre eigene sind, statt eigene zu formen.

In einem Punkt tun mir Jugendliche heute besonders leid: die Zuwendung und Beschäftigung mit ihnen, in welcher Form und Richtung auch immer, ob als Kritik oder als langes Gespräch, findet nicht mehr statt. Als Ersatz wird Konsum als Seelentröster angeboten, und die Folgen für die Qualität des Ergebnissen scheinen niemanden ernsthaft zu stören.

Spricht man das aber so an, kriegt man zu hören, man sei intolerant oder hätte den Zug der Zeit verpasst. Das sehe ich nicht so ...

Rainer



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