(Philosophie) Abneigung, Intoleranz, Weltverbesserung?


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Beitrag von Hans-Jürgen vom Januar 09. 2000 um 04:20:35:

Tach Leute,

in letzter Zeit beschäftigt mich ein Problem zunehmend und geht mir nicht mehr aus dem Kopf:

In den Siebzigern gab' es so richtige Feindbilder - Rocker und (besonders) Liedermacher ("wirkliche" und selbsternannte) zogen über die Schlagerszene her (nicht repräsentatives Beispiel: Udo Lindenberg "... all die ganzen Schlageraffen dürfen hier singen, dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortragen bringen, nur der kleine Udo, nur der kleine Udo darf das nicht ..."); Hannes Wader bezeichnete die ZDF-Hitparade als Fall für die Menschenrechts-Kommission und auch Reinhard Mey wies in seinem Lied über das Vorher-Fotomodell Detlef Kläglich auf die Leute hin, die Noten nicht von Fliegendreck unterscheiden können und ihr Hirn im Tanzbein aufbewahren. Robert Plant soll Slade als die schlechteste Gruppe der Welt bezeichnet haben.
Um gleich alle Klarheiten zu beseitigen: Ich bin ein Fan von allen oben Genannten.
Klar (wieso eigentlich "klar"?!) hab' ich diese Feindbilder übernommen. Die ZDF-Hitparade-Schlagerszene wehrte sich dann mit dem bewegenden Song von Tina York "Wir lassen uns das Singen nicht verbieten", was meine damalige aufrechte Haltung gegen diesen ganzen Mist nur noch bestärkte.

Heute komm' ich mir plötzlich vor, als hätte ich die ganze Zeit über Inquisition betrieben, gegen all das gewettert (hab' ich auch, und wie! - vielleicht erinnert sich der eine oder andere an meine Postings zum Thema "verhunzende Cover-Versionen" im Grünen, lang, bevor es die Aussensaiter gab) und versucht, diese Pestbeulen in unserer Kultur auszurotten. Mittlerweile fühl' ich mich so, als hätte ich meinen Kindern die Spielzeuge aus der Hand geschlagen und gegen Terminplaner, Registrierkassen, Religionsbücher und Tabellen eingetauscht.
Mit einem Satz: Ich schäme mich fürchterlich!

Ich hatte die ganze Zeit über nie begriffen, daß Musik Gefühle berührt, auslöst, steuert. Ich hatte "gelernt", daß Volksmusik widerlich ist (darüber hinaus bestens gerechtfertigt durch die These, daß die hierzulande übliche Volksmusik oft einen nationalsozialistischen Touch haben soll), daß Schlager reine Kacke sind und das ganze Geschunkel Volksverblödung. Sollte mir doch was davon gefallen, kann ich es als adäquate Rechtfertigung geschwind als "Kult" definieren und schon bin ich wieder absolutiert und fein raus.
Das kann's ja wohl nicht sein, denke ich (heute)!
Ich hab' mit dieser Haltung, die ich natürlich (?!) immer und bei jeder Gelegenheit vehement vertreten hab', sicherlich vielen Leuten vor den Kopf gestoßen. Heute kann ich vielmehr als früher nur darauf hören, was meine Seele zu dem sagt, was ich höre (heute "darf" man zugeben, Sweet-Fan zu sein, daß die Disco-Welle durchaus was für sich hatte - zur Neuen Deutschen Welle hab' ich mich aber von Anfang an bekannt!).

Um 's auf den Punkt zu bringen - den Musikantenstadl und vergleichbare Sendungen schau ich mir weiterhin nicht an, denn ich hab' rausgefunden, daß mir dabei rein ästhetisch immer noch der Kamm geschwillt (ich werd' halt nie behaupten, daß Scheiße gut riecht - wie tolerant ich heute wieder bin!). Aber bei manch anderen Sachen stoße ich immer wieder auf das Problem: Find' ich das jetzt Scheiße, weil ich's mal so gelernt hab' oder weil ich's wirklich so empfinde? Und: Wenn ich es Scheiße finde - kann ich dann denen, die sich daran erfreuen, ihren Spaß lassen oder muß ich das in "wohlmeinend"-missionarischer Absicht entsprechend niedermachen?

Habt Ihr da vielleicht auch Probleme? Würd' mich mal brennend interessieren!

Cheerio
Hans-Jürgen


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