Alte Männer, die Musik machen – Everything must go


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Beitrag von Michael (Jacuzzi) vom Juni 26. 2003 um 12:03:58:

"Everything must go" – das ist der Titel der neuen CD von Steely Dan, die seit einer guten Woche auf dem Markt ist & ein paar Worte verdient hat.

"The talk/ The sex / Somebody to trust / The Audi TT / (...) The '54 Strat / These are the things I miss the most".

Na, ist das ein Text? Das Zitat dient ehrlicherweise aber nur dem Anfixen von Außensaitern, ist nämlich eine ganz und gar untypische Textstelle für Steely Dan. Die "richtigen" Steely Dan-Texte wimmeln nur so vor Kryptizismen und enthalten Zeilen wie diese:

"Drop me off in Groovetime / Do I hear the Slang of Ages?".

Wir hatten ja neulich schon ein mal über introvertierte Musik, über Musik als Selbstgespräch geredet (übrigens ein Thread, der sich unmittelbar positiv auf mein Gitarrespiel ausgewirkt hat): Das hier ist nun endlich Musik ohne Message – Musik, die nicht verstanden werden will. Wie wundervoll. "Wie entspannend in diesen geschwätzigen Zeiten", würde mein verstorbener Großvater sagen, wenn er es nicht wäre.

Zur Harmonik: Gibt es hier noch mehr Leute, die "poor popular songwriting" betreiben, also im Grunde immer nur auf der Suche nach dem Riff oder dem Groove sind und auf harmonische Strukturen lieber verzichten (weil das "irgendwie nicht dazugehört") bzw. glauben, wenn sie eine None in einem Akkord haben, schon in harmonischem Reichtum zu baden wie Dagobert Duck? Ans Herz gelegt sei ihnen "Everything must go", als eine harmonisch reiche und doch immer klare, im eigentlichen Sinn modulierende Platte. Steely Dan sind eine Bereicherung unserer harmonisch armen (& gelegentlich ein bisschen dümmlichen) Popmusik.

Für alle, die an Sound und Produktion interessiert sind: Hat hier jemand gute Boxen? Es gibt keine Band, die mit dieser Klarheit und Transparenz produziert. Das ist wie in der Schwarzwaldklinik: Jede Bassdrum ein Tupfer (mit ein paar Sprenkeln), und über jeder Snare öffnet sich ein kleiner Himmel, das meine ich ganz im Ernst. Im Studio kann man sich eigene Aufnahmen zielsicher damit ruinieren, dass man einen A/B-Vergleich mit Steely Dan anstellt. (Oder man lässt "Everything must go" durch den Analyzer laufen & kupfert ein paar Frequenzen ab.)

Nachdem das hier ja auch ein Gitarristenforum ist, noch eine Bemerkung zu Walter Beckers Künsten. Ein entfernter Bekannter von mir hat mal über Jeff Beck gesagt: "Der zeichnet dir mit zwei Strichen ein Gesicht". So ähnlich ist’s mit Walter Becker: Der malt auch mit zwei Strichen ein Gesicht, nur ist das nicht menschlich, sondern eher Alien-artig. Zählt zu den Meistunterschätzten.

Von gänzlich unwissender Seite wurde in diesem Forum kürzlich das Wort von der Musik im "Fahrstuhl" ins Spiel gebracht, das im Zusammenhang mit Steely Dan nahezu so reflexartig fällt wie "Friedliebzulaut". Da wird etwas Grundsätzliches verkannt: Steely Dan ist weise, heruntergebrannte, destillierte Musik (kennt ihr diese Whisky-Werbung, wo alle so schrecklich viel Zeit haben? Alte Männer, die Musik machen). Alles ist reduziert, alles wird klar, es gibt keine Pose mehr ("godwhackers", noch so ein geiler Text). Und alles, was bleibt, ist ein tackernder Vierviertel mit ein paar Instrumenten.

Mein bester Freund ist eine der wenigen Personen, mit denen man ernsthaft über Musik reden kann, und der hat zu "Everything must go" gesagt: "Du kaufst sie dir, rennst nach Hause, entkorkst eine Flasche guten Weines, richtest noch mal die Lautsprecher aus, machst sie an – und bist erst mal ernüchtert". Genau so ist es. Wenn es Fahrstuhlmusik ist, dann geht es, um diesen Vergleich noch ein wenig zu strapazieren, ganz schön hoch .... na lassen wir das.

Warum ich das alles schreibe? Nun, hier ist ja unlängst über "St. Anger" diskutiert worden, als handele es sich bei Metallica um ein musikalisches Phänomen, was aber völlig falsch ist: Metallica sind vielleicht ein kulturelles, aber jedenfalls kein musikalisches Phänomen (im Sinne von: "Ist Musik, aber als Musik nicht phänomenal"). Bei Steely Dan ist es nun genau umgekehrt: Das ist phänomenale Musik, aber kulturell eher unbedeutend, einfach weil kaum ein Hahn danach kräht – wenn dereinst die Marsmenschen ein Bild unserer Kultur und Gesellschaft bekommen sollen, dann wird man ihnen leider eher "St. Anger" als "Everything must go" in die Hand drücken müssen.

Und als Mensch, der über Musik nachdenkt (was in diesem Forum ja öfter mal aufscheint), sollte man sich folgender grundsätzlicher Entscheidung bewusst sein: Man kann sich nur entweder für Musik interessieren oder nicht mit Steely Dan auseinandersetzen. Beides zusammen geht nicht.

Gruß & so,

Michael (Jacuzzi)

NP: Johnny "Guitar" Watson: A real mother for ya (noch so eine Götterzeile: "Wanna buy a new car / but the price ain’t right").


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