Re: (Philosophie) Seid ihr als Musiker glücklich? Zufrieden?


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Beitrag von ferdi vom Juni 11. 2022 um 18:50:22:

Als Antwort zu: (Philosophie) Seid ihr als Musiker glücklich? Zufrieden? geschrieben von Der Felix am Juni 09. 2022 um 18:48:47:

Hi,

schönes Thema. Ich arbeite deine Vorschläge mal ab:


 - Man findet keine passenden Mitmusiker

Ich habe vor drei Jahren ein neues Projekt gegründet und habe erst vor einem Vierteljahr einen Drummer gefunden. Warum? Weil die wirklich guten meist Profis sind und Geld verdienen müssen, und das tut man entweder im Studio oder als Covermusiker.

 - Die Mitmusiker haben nicht genug Zeit bzw. zeigen nicht genug Einsatz

Najaaaa .... wenn Musikmachen bei allen Hobby Nr 1 oder 2 ist, gibt es, wenn das Talent ähnlich ausgeprägt ist, selten Konflikte, wenn allerdings fünf oder mehr Dinge wichtiger sind, dann bleibt die Qualität der Musik doch meist eher mittel. Ist OK, aber es müssen sich eben Gleichesinnte finden. Meine Ex-Band ist nach etlichen Umbesetzungen schließlich daran zerbrochen, dass wir uns nicht einig werden konnten, "wie super" das Endprodukt sein soll und wieviel Probezeit man ergo investieren muss.

Ich persönlich halte Perfektion für erstrebenswert.


- Es finden sich keine Auftrittsmöglichkeiten

Jeder kennt das. Solange du Covermusik spielst (=viele Leute ziehst) und die Leute Bier saufen ohne Ende, ist jeder Wirt zufrieden. Ich habe jahre- bis jahrzehntelang Kneipen voller begeisteter, aber auch besoffener und grölender Leute gefüllt und bespielt. Wenn die Stimmung bombe ist und jedes Gitarrensolo frenetisch bejubelt wird, kann das durchaus Spaß machen. Für Kunst oder Intellektualität begeistern sich jedoch keine 5% der Kneipengänger.

 - Man tritt mit der Coverband viel auf, aber es ist soooo viel Arbeit (und Zeitaufwand)

Hm - ich finde Covern nicht aufwändig. Klinkenputzen und An- wie Abreisen ist zeitaufwändig. Das meiste Coverzeug, vor allem so Bluesrock-Zeug, ist doch eher mittelkomplex.


- Man ist mit der Coverband erfolgreich, würde aber lieber mit eigenem Material auftreten

In meiner Heimatstadt treten jedes Jahr auf jedem Volksfest die exakt selben drei Bands  mit 98% identischem Programm auf, in der Regel mehrfach. Die Leute sind begeistert, sie bekommen nur zu hören, was sie schon kennen. Links und rechts der Bühnen stehen florierende Bier- und Bratwurstbuden. 

Das insgesamt Deprimierendste war jedoch mein einjähriges Engagement auf den so genannten Funk and Soul-Sessions in einer benachbarten Stadt im Jahre 2015. Im Grunde waren die Leute bombe zufrieden, wenn jemand U30 mit Titten auf der Bühne stand. Die restliche Mannschaft auf der Bühne, die den Sängerinnen idR an musikalischer Potenz überlegen war, hat niemanden wirklich interessiert. 

Meine Verachtung für das Cover-Publikum möchte ich hier gar nicht breitwalzen, ABER ausgedrückt habe ich sie nun. Was will man von einer Gesellschaft, die BILD zu ihrem beliebtesten Printmedium erkoren hat, in der DSDS eine der beliebtesten TV-Sendungen ist, erwarten? Für die für völlig OK ist, dass Menschen, die sich beruflich um die Manipulation von Aktienkursen kümmern, ein Vielfaches von dem verdienen, das Menschen, die sich um Kinder, Alte und Kranke kümmern, bekommen?

Stört es euch nicht, dass heutzutage kaum Musiker von ihrer Kreativität leben können, weil kaum jemand mehr bereit ist, für ein vergängliches Produkt mit zehn Songs  (Vinyl-LP) 20€ zu bezahlen? 

Die Hälfte der Bevölkerung interessiert sich für nichts außer sich selbst und was sie gerne tut, bitte keine Veränderung, nur bitte immer mehr von demselben. Sie kennt Musik hauptsächlich a) aus der Jugend (da war man noch offen für Neues) b) aus dem Radio, und c) alles außer I-IV-V-Verbindungen ist zu komplex. Dom7 geht immer, Major 7 ist schon hart grenzwertig, aber Major7#11? Klingt viel zu schräg, also VIEL zu schräg. 


- Man ist technisch nicht so versiert wie Steve Vai

Ich mag seine Musik überhaupt nicht, teile aber seine Vorliebe für den lydischen Modus. 


- Was treibt euch an?

Künstlerische Selbstverwirklichung. Ich finde die Vorstellung, dass es eines Tages nur noch AC/DC-Coverbands und BILD-Zeitung gibt, unerträglich. Man muss den Geist füttern. Ich hoffe, dass wir spätestens nächste Saison "die Leute" mit interessanter, nicht mit bekannter, Musik werden berühren können. Ein solches Projekt hat allerdings keine Chancen, auch nur entfernt wirtschaftlich erfolgreich zu sein. 

Als ich das Songwriting anfing, wusste ich gar nicht, was dabei herauskommen würde. Ich habe jahrzehntelang "coole und geile" Musik gemacht. Aber was ich selbst an Harmonien schrieb, wurde meist "schön". YMMV.

Ich mache zZt eine Fortbildung, werde ab nächstem Schuljahr das Fach Musik unterrichten. Na da werden sich die Schüler auf was einstellen müssen. Ich möchte ihnen zeigen, dass es gesundheitlich völlig unschädliche, akustische Rauschmittel gibt, lass uns beispielsweise Pink Floyds DARK SIDE oder Hendrix' ELECTRIC LADYLAND sagen, die es wert sind, sich wiederholt stundenlang damit zu beschäftigen. Musik ist heute doch vielerorts zu Hintergrunduntermalung verkommen, Handy-Lautsprecher oder Bluetooth-Böxchen mit beschissenem Sound vernichten auch noch das letzte Bisschen Qualität.

Ich bin kein Kulturpessimist. Das Pendel wird schon wieder in die andere Richtung schwingen. Aber zZt sind wir an dem Tiefpunkt angekommen (und werden die Folgen noch jahrzehntelang ausbaden müssen), an den uns der sog. Liberalismus geführt hat.

Hugh!

Ferdi




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