(Theorie) Achtung, lang und "kopflastig"


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Beitrag von burke vom Februar 04. 2003 um 01:58:01:

Als Antwort zu: Re: (Theorie) Modes...Sorry, bitte hier lesen! geschrieben von Oli am Februar 02. 2003 um 18:56:59:

Hallo,

ich habe mal in meinem Postkasten recherchiert und die Mails, die ich mir mit einem Kollegen zu diesem Thema ausgetauscht habe, mal zusammengefasst. Dazu noch etwas Internetrecherche, allerdings etwas fruchtlos.

Soweit bin ich gekommen:

gibt es keine 7 Modi, sondern 4 authentische (dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch) und 4 plagale Modi (hypo-dorisch, hypo-phrygisch usw.), zusammen also 8. Die Bezeichnungen sind zwar griechisch, die Zuordnung zu Skalen ist aber aus späterer byzantinischer Zeit (und auch noch abweichend von den griechischen Skalen, die völlig anders und zudem abwärtsführend konstruiert waren).
Ionisch und aeolisch sind Benennungen aus dem 16. Jahrhundert (Glarean) und hatten in der musikalischen Praxis noch nicht viel mit Dur oder Moll gemeinsam.
Lokrisch ist eine abstrakte Ergänzung, um das System einiger Theoretiker zu komplettieren, die in der Zeit NACH der tatsächlichen Modal-Praxis versucht haben, den bereits historisch gewordenen Modi die neuzeitlichen Skalen-Theorien aufzupropfen. Quellen: u.a. http://home.t-online.de/home/kolja.elsaesser/theory.htm

Im Detail:

(Wohlgemerkt: was jetzt kommt, ist die ganz grobe Kelle und eine Art readers-digest-Version plus halbverdautem Kraut-und-Rüben-Eintopf aus einem Jahrtausend modaler Theorien - ein gestandener Musikwissenschaftler reißt mir ob solcher Hauruck-Aussagen den Kopf ab!)

Warum ist das Lokrische nur ein theoretisches Konstrukt der "post-modalen Ära"?

Ganz (oder zumindest relativ) einfach:
1. Die Theoretiker aus der Zeit, in der tatsächlich noch modal musiziert wurde, kannten kein "Lokrisch" - sie bezeichneten die Modi der "Kirchentonarten" (dies ist ohnehin eine historisch SPÄTERE Bezeichnung für eine historisch FRÜHERE Praxis!) zudem völlig anders, als dies heute üblich ist.
Aber auch unter einem ANDEREN Namen gab es de facto keinen Modus, der in der Struktur der Kopfgeburt "Lokrisch" entsprechen würde.

2. (a): es galt das Tritonus-Verbot (übermäßige 4 / verminderte 5) und (b): man unterteilte den Oktavraum als Teil des theoretisch möglichen Ambitus (= absoluter Tonraum, nicht mit der Skala im Oktavraum zu verwechseln!) in Abschnitte mit "perfekten" Konsonanzen ("reine" 4 oder 5) , deren Eckpunkte, die disjunkt (wie unsere "modernen" Tetrachorde, also mit einem Trenn-Intervall) ODER konjunkt (quasi "überlappend") verbunden werden konnten.

Bei "Lokrisch" hätte sich bei jeder möglichen Variante folgende "verbotenen" Konstellationen ergeben:

2 disjunkte Teile (mit trennendem Halbton):
h-c-d-e + f-g-a-h (Tritonus: f-h)

2 konjunkte Teile:
h-c-d-e-f + f-g-a-h (Tritonus h-f und f-h!)

Das Lydische enthält "auf dem Papier" zwar auch die "gefährliche" Konstellation f-h, ist aber einerseits als konjunkt interpretiert worden (f-g-a-h-c + c-d-e-f : kein Tritonus!) und war andererseits so im Ambitus plaziert, daß das "h" als "b" intoniert werden konnte (die Beziehungen zwischen Modus-Theorien UND Ambitus-Theorien würden jetzt zu weit führen!). Wenn es also einen echten Vorläufer unseres "Dur" gegeben hat, dann das Lydische!

3. und letztendlich: auch aus der Praxis sind keine überlieferten Kompositionen im "lokrischen Modus" bekannt - auch wenn das "Graduale Romanum" massenhaft fragwürdige oder falsche Zuweisungen der "gregorianischen" Gesänge zu ihren Modi aufweist.


Jetzt zum Thema Modus/mode:

MODUS heißt u.a. "Art und Weise" - demnach reguliert ein Modus nicht nur im Wortsinn, sondern auch in der Praxis zunächst einmal nur bestimmte Ton-(oder auch Akkord-)Dominanzen innerhalb eines musikalischen Ablaufs, also die "Art und Weise", in der Töne zueinander in Bezug stehen.
Als erstes bestimmt ein Modus den dominierenden Bezugston (den "Grundton"), danach legt er Je nach spezifischem Charakter des Modus die restlichen Beziehungen fest.
Alles, was nicht mindestens dieses Definitionsmerkmal erfüllt, ist kein eigenständiger Modus!

Wenn wir (vor dem sozialisierten Hintergrund unserer musikalischen Kultur mit ihrem Konzept der "akkordischen Harmonik" !) z.B. in einem Stück festlegen, daß ein C-Dur-Akkord als Dreh-und Angelpunkt aller anderen Harmoniefortschreitungen, also als "Ziel- oder primärer Auflösungsakkord" ("Tonika" in der funktionsharmonischen Terminologie), daß G-Dur als "starker Strebeakkord" ("Dominante") und F-Dur als "weniger starker Strebeakkord" ("Subdominante")fungieren soll, dann regulieren wir damit die "Art und Weise" bestimmter harmonischer Fortschreitungen: wir denken modal!

Dabei entsteht folgende "zentralistische" Hierarchie (mit der Tonika im Zentrum):

........g-h-d Dominante
....C-E-G TONIKA
f-a-c Subdominante

Linear dargestellt:
....C-DUR
....| | |
f-a-C-E-G-h-d-(f)
| | | | | |
F-DUR G-DUR


Dieses Tonmaterial läßt sich auch als Material-Skala darstellen, was aber das tatsächliche harmonische ("akkordische") Konzept der Dur-Moll-Tonalität verschleiert und eine zwar übliche, aber denkbar unpräzise Darstellungsart ist:

c-d-e-f-g-a-h-c

Wenn wir nun diese "Skala" unter dem Blickwinkel unserer christlich-abendländischen Musiktheorie betrachten, die - nebenbei bemerkt - weder auf christliche, noch abendländische Wurzeln zurückgreifen kann, sondern ein wüstes Konglomerat (z.T. gründlichst mißverstandener und umgeformter) Theorien aus unterschiedlichsten Quellen ist (unsere Kenntnisse z.B. der antiken griechischen Theorie basieren auf späteren Aufzeichnungen arabischer Herkunft), dann stellen wir fest, daß dieses Skalengebilde aus zwei sogenannten "disjunkten Tetrachorden" besteht, die durch einen Ganztonschritt voneinander getrennt sind:

c-d-e-f + g-a-h-c

Die Ton-Distanzen sind:
1-1-1/2 + 1-1-1/2

Eine solche Anordnung der Intervalle identifiziert der Musiktheoretiker der Neuzeit nur dann als DUR-MODUS mit dem Ausgangston C, vulgo "C-DUR-Tonleiter", wenn er aus dem konkreten musikalischen Kontext schließen kann, daß es sich bei DIESER Skala um die komprimierte, horizontale und abstrahierte Darstellung einer musikalischen Realität handelt, die etwas ganz anderes impliziert, nämlich ein primär vertikales Konzept von Akkord-Beziehungen (der "Dur-Moll-Tonalität" der Neuzeit).

Dur und Moll - die im Prinzip auch nur eine spezielle, zudem historisch und geografisch beschränkte Ausprägung des modalen Musizierens sind - sind also weniger horizontale Skalen, als vielmehr vertikale Akkord-Komplexe!

Kommt nun im Rahmen eines eindeutig als C-Dur definierten Musikstücks z.B. ein Akkord mit der Struktur d-f-a-c vor ("Dm7", z.B. in der Funktion einer Doppeldominante mit Auflösung in die Dominante G-Dur), dann ergibt sich folgende Hierarchie:

d-f-a-c Dominante der Dominante ("Doppeldominante")
g-h-d Dominante
C-E-G TONIKA
f-a-c Subdominante

An der grundlegenden Struktur ändert sich dadurch also nichts, auch der Dm7-Akkord bleibt funktional auf das Zentrum C-Dur bezogen. Die Möglichkeit, die Doppeldominante auch als D7 (d-f#-a-c) darzustellen, ist lediglich EINE von verschiedenen LIZENZEN, harmonische Beziehungen zu realisieren und beweist nur, daß Skalentöne in der Praxis durchaus flexibler gehandhabt werden können, als dies eine starre theoretische Tonleiter-Darstellung versinnbildlicht.

Wenn nun in einem C-Dur-Stück eine Passage mit der Abfolge Dm7 -> G(7) vorkommt, wird es logischerweise auch eine vorübergehende Dominanz der Töne D-F-A-C -> G-H-D-(F) geben. Werden diese Dominanztöne skalenförmig (!) verbunden und zudem zur Oktave ergänzt (eigentlich sinnlos - aber bitte!), ergibt sich daraus D-e-F-g-A-h-C-(d) -> G-a-H-c-D-e-(F)-(g).
Beide skalenartige Gebilde sind nun aber nicht etwa eigenständige "modes" (denn als solche würden sie per Definition D, bzw. G als neue Grundtöne mit jeweils neuen Abhängigkeiten festlegen, was aber nur im speziellen Rahmen von MODULATIONEN als musikalische Lizenz der Tonalitäts-ERWEITERUNG möglich wäre), sondern lediglich SKALEN-AUSSCHNITTE aus der Ausgangs-Modalität, die vorab als "C-Dur" festgelegt wurde.

Als BENENNUNG dieser Ausschnitte ist es legitim, z.B. bei d-e-f-g-a-h-c-d von einem SKALEN-AUSSCHNITT auf der II. Stufe (bezogen auf C-DUR) zu sprechen (denn C bleibt - zumindest latent - Grundton!).
Eine Benennung dieser Ausschnitte mit Bezeichnungen aus der Modalpraxis der sogenannten "Kirchentonarten" ist aber schlichtweg FALSCH!

Im Rahmen von C-DUR ist d-e-f-g-a-h-c-d also kein DORISCHER MODUS, sondern ein Skalen-Ausschnitt !!!


Zum Verständnis der essentiellen Unterschiede zwischen den Modi (zu denen auch DUR und MOLL gehören!) gehört auch die Kenntnis der historisch gewachsenen musikalischen SYNTAX, also jener Komponenten, die selbst in nichtschriftlicher ("memorialer") Praxis die Logik musikalischer Abläufe garantieren sollen.
Zu diesen "Pattern" formaler Gestaltung gehört z.B. das Axiom, das der Schlußton eines Musikstücks auf dem Grundton endet (in modaltheoretischer Terminologie daher als "Finalis" bezeichnet, in moderner funktionsharmonischer Interpretation als "Tonika"). Im VERLAUF eines Stückes können nun JE NACH MODUS bestimmte sekundäre Zieltöne angesteuert werden, die zur formalen Gliederung beitragen.

Um im harmonisch begründeten Verständnis unserer Zeit zu bleiben:
in C-Dur ist ein solches Muster der Binnen-Gliederung der sogenannte "Halbschluß" (nomen est omen) auf der Dominante G. Dieser Dominante wird soviel Eigendynamik zugestanden, daß sie wiederum leittönig (f wird in diesem Fall zu f#) mit einer eigenen Dominante (der Doppeldominante "DD") angesteuert werden kann. Bezugspunkt bleibt aber nach wie vor die Finalis (Tonika) C!

Die Modaltheoretiker kannten als "Binnen-Zielton" den TENOR (nicht mit der gleichnamigen Stimmlage zu verwechseln!), der je nach Ambitus des Modus ("plagal" oder "authentisch") bei gleicher Finalis auf verschiedenen Tonstufen liegen konnte.

Wenn man nun C-Dur einmal (etwas gewaltsam) in "kirchen-tonartliches" Denken übersetzt, dann ergibt sich folgende Struktur:

G authentischer Tenor (Dominante)
C Finalis (Tonika)
F plagaler Tenor (Subdominante)

Im ionischen Modus, der nur in der oberflächlichen Reduktion auf ein Skalengebilde unserem Dur ähnelt, liegen diese Binnen-Zieltöne aber anders:

G authentischer Tenor (Quintabstand zur Finalis/Tonika wie bei der C-Dur-Dominante)
C Finalis
E (!) plagaler Tenor (und DAFÜR fehlt uns ein modernes Äquivalent !)

Noch deutlicher werden die Unterschiede zu unseren Dominant-Subdominant-Beziehungen im Phrygischen:

C authentischer Tenor (Sextabstand!)
E Finalis
A/G plagaler Tenor (ZWEI Möglichkeiten der "Subdominante"!)

Ein harmonisiertes Phrygisch hat übrigends die Dominante (im modernen Sinn) auf der VII. Stufe (als Dm oder als Dm7)) oder wie im Flamenco auf der II. Stufe (als F oder üblicherweise als F add 6# = f-a-c/d#)!

Die Identifikation von Skalen ist also in jedem Fall "kontext-sensitiv"!


FOLGLICH:

"Modaler Jazz" ist DANN wirklich modal, wenn er auf die TONGESCHLECHTER der abendländischen modalen Praxis zurückgreift (denn Phrygisch oder Dorisch sind ebenso unterschiedlich wie Dur und Moll!), oder "modal" im Sinne modernerer musikethnologischer Konzepte begreift, die auch modale Praktiken wie Raga (Indien), Maquam (Orient) oder Patet (Bali: Gamelan) unter diesen Begriff subsummieren, oder "Modalität" als Konzept der "Neuen Musik" versteht, die mit neuen Skalen auch neue Hierarchien definiert hat (z.B. bei Messiaen).

Die "modes" der Jazz-Theorie sind aber etwas völlig anderes:
als AUSSCHNITTE aus der MATERIALSKALA der jeweiligen Tonart sind sie lediglich eine DIDAKTISCH motivierte Eselsbrücke (man mag sie bestenfalls als gutgemeinte, aber ansonsten gründlich mißglückte "Lernhilfen" titulieren) - sie sind also Skalen-Ausschnitte, nicht aber eigenständige "Modi"!

Die Bezeichnung der jeweiligen Ausschnitte mit pseudo-historischen Namen ist ein Anachronismus, der wohl nur dadurch zu erklären ist, daß man einer im Prinzip banalen Lerntechnik ein wissenschaftliches Flair verpassen wollte.
Die negativen Auswirkungen dieser leider weitverbreiteten Praxis auf das Verständnis für ECHTES MODALES MUSIZIEREN kann man nur als katastrophal und kontraproduktiv bezeichnen.
Die unreflektierte Repetition von theoretischen Fehlgeburten, gepaart mit Halbwissen und Verdrehung historischer Fakten, ist leider schwer aus den Musikerköpfen zu bekommen - letztlich zum Schaden der Musik selbst.


Soweit alles unklar?

BUCHEMPFEHLUNG: den Artikel "MODES" im Grooves Dictionary of Music. Das ist schon satt, inklusive Literaturverzeichnis.

(c) Ulrich Peperle


So weit, so unklar. Ob praxisrelevant, muß wohl jeder für sich entscheiden.

Gruß
Burkhard


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