Hi Hans-Jürgen,
: In den Siebzigern gab' es so richtige Feindbilder
Ja, war doch gut, oder? Ich bin auch ein Kind dieser Zeit. Im prägenden Sinne. Aber der Mensch kann ja lernen, gegen seine Prägung anzukämpfen.
: - Rocker und (besonders) Liedermacher ("wirkliche" und selbsternannte) zogen über die Schlagerszene her (nicht repräsentatives Beispiel: Udo Lindenberg "... all die ganzen Schlageraffen dürfen hier singen, dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortragen bringen, nur der kleine Udo, nur der kleine Udo darf das nicht ..."); Hannes Wader bezeichnete die ZDF-Hitparade als Fall für die Menschenrechts-Kommission
Alles sehr lobenswerte Agitation. ;-) Es ging wohl auch nicht nur darum, die Musik Scheiße zu finden und anzuprangern, sondern auch die dahinterstehende Politik. Zum Einen der Kommerz, die Abzocke, die damit gemacht wurde (und wird), den Leuten ihre primitiven Instinkte zu befriedigen. Zum anderen dieses "Dumme Texte, um das Volk dumm zu halten".
Inzwischen ist die hohe Zeit des Klassenkampfs aber vorbei und man sieht solche Dinge vielleicht ein bißchen anders.
: und auch Reinhard Mey wies in seinem Lied über das Vorher-Fotomodell Detlef Kläglich auf die Leute hin, die Noten nicht von Fliegendreck unterscheiden können und ihr Hirn im Tanzbein aufbewahren.
Kenn ich nicht. Hast Du mal den Text? War damit ein realer Schlagefuzzi gemeint?
- A propos Reinhard Mey: Wenn mich sonst einer aus meiner Altersklasse irgendwas über Reinhard Mey fragt, sag' ich immer "Reinhard Mey? Kann ich nix mit anfangen. So alt bin ich noch nicht!" ;-)
: Robert Plant soll Slade als die schlechteste Gruppe der Welt bezeichnet haben.
Und dabei sind ihre späten Werke Ihrer ersten Phase (The Banging Man, Far Far Away, Everyday) doch geradezu genial.
: Um gleich alle Klarheiten zu beseitigen: Ich bin ein Fan von allen oben Genannten.
Selbst wenn nicht, Toleranz ist angesagt. Ich kann jemanden lieben und seine Handlungen verabscheuen. Ich kann erst recht jemanden mögen und zugleich seinen Musikgeschmack zum Kotzen finden. (Einer meiner besten Freunde ist Chefredakteur bei einem kleinen privaten Radiosender, der hört am franzosische liebsten Chansons (würg), aber der Vorteil ist, daß ich von ihm immer die ganzen Heavy-Platten bekomme, die er Promo-mäßig so zugeschickt bekommt und mit denen er nix anfangen kann...)
Insofern auch eine Herausforderung an das diplomatische Geschick (welches man by the way auch trainieren kann): Klar und deutlich zu sagen, was man mag und nicht mag (in diesem Fall in musikalischer Hinsicht), ohne den Verdacht aufkommen zu lassen, das irgendwie persönlich zu meinen. Ein solch diplomatisches Vorgehen erstickt am Rande bemerkt auch jede POD-Diskussion im Keime. ;-)
: Klar (wieso eigentlich "klar"?!) hab' ich diese Feindbilder übernommen.
Natürlich klar. Prägung. Es waren noch keine Feindbilder da, und Deinem Lebensalter zufolge brauchtest Du welche. Also hast Du die genommen, die gerade in der Luft rumschwirrten.
: Heute komm' ich mir plötzlich vor, als hätte ich die ganze Zeit über Inquisition betrieben, gegen all das gewettert (hab' ich auch, und wie! -
Aufbruch der Toleranz?
: vielleicht erinnert sich der eine oder andere an meine Postings zum Thema "verhunzende Cover-Versionen" im Grünen,
Da hab ich mich inzwischen auch gewandelt. Ich weiß noch, wie Thin Lizzy (The Gordies oder so) unter anderem Namen eine sehrsehr rockige Cover-Version von Jingle Bells rausbrachten. Fand ich total toll. Das war ein Lied, dessen Melodie oder Feeling man gut kannte und wohl auch irgendwie mochte. Und der weihnachtliche Charakter wurde ihm gnadenlos geraubt. Wenn man das mal hinterfragt, stelt man fest, Thin Lizzy diesem Stück all das weggenommen hat, was in den Augen des Rockers störte, und das hinzugefügt hat, was ein guter Rocksong braucht.
Und genau das machen die Rapper oder HipHops oder wasweißichwer ja auch mit "unseren" guten alten Stücken: Sie zeigen damit, daß sie dieses Stück mögen, es aber gern anders spielen möchten, nämlich auf ihre Art. Ist nichts Verurteilenswertes dran. Man muß es ja nicht mögen.
Das Gleiche ist ja auch bei Metallica und Garage, Inc. passiert.
Die neue Kashmir-Variante aus dem Godzilla-Film find ich übrigens klasse.
: Mit einem Satz: Ich schäme mich fürchterlich!
Sei doch froh, daß Du es gemerkt hast. (Immer alles positiv sehen!) Die meisten Leute merken das nie und hinterher nennt man sie dann Spießer. (Meine Definition eines Spießers: Eral wieviel er gesehen, erlebt oder gehört hat, er denkt immer, darin wäre das gesamte Wissen des Universums bereits eingeschlossen und nach diesen Maßstäben könnte er simit alles und jeden beurteilen)
: Ich hatte die ganze Zeit über nie begriffen, daß Musik Gefühle berührt, auslöst, steuert. Ich hatte "gelernt", daß Volksmusik widerlich ist
Ist sie doch auch. Du darfst sie nach wie vor widerlich finden. Du solltest nur nicht die Leute verachten, die sie trotzdem mögen. Sie ist nur für Dich widerlich. Du brauchst Dir selbst gegenüber nicht tolerant zu sein. Wie die Musik für andere ist, darf und sollte Dir egal sein.
: heute "darf" man zugeben, Sweet-Fan zu sein,
Hey, das Synthie-Intro der Single-Version von Fox on the Run war ja wohl eins der geilsten Intros einer ganzen Dekade!
: Um 's auf den Punkt zu bringen - den Musikantenstadl und vergleichbare Sendungen schau ich mir weiterhin nicht an, denn ich hab' rausgefunden, daß mir dabei rein ästhetisch immer noch der Kamm geschwillt (ich werd' halt nie behaupten, daß Scheiße gut riecht - wie tolerant ich heute wieder bin!).
:-))) Es ist nur in Deinen Augen scheiße. Sobald Du es Scheiße nennst und dabei sagst, daß es Deine persönliche Meinung ist, darfst Du es Scheiße nennen, so oft Du willst. Das Spießertum beginnt da, wo einer irgendwas "Scheiße" nennt und zugleich den Anspruch vertritt, daß man das so sehen muß und nur so sehen darf.
: Aber bei manch anderen Sachen stoße ich immer wieder auf das Problem: Find' ich das jetzt Scheiße, weil ich's mal so gelernt hab' oder weil ich's wirklich so empfinde?
Ist das denn wichtig? Ich mein, es ist gut, sich von alten Gewohnheiten zu befreien und sie ständig zu hinterfragen, aber das Bedürfnis, die alten Fesseln abzustreifen, darf nicht dazu führen, daß man sich wieder einengt.
: Wenn ich es Scheiße finde - kann ich dann denen, die sich daran erfreuen, ihren Spaß lassen oder muß ich das in "wohlmeinend"-missionarischer Absicht entsprechend niedermachen?
Was wilst Du da machen? Musikalisch gibt es kein objektives Kriterium, und mit Aussagen wie "Die Wildecker Herzbuben wiegen zusammen knapp eine Tonne" kommst Du auch nicht weiter. Warum läßt Du den Leuten nicht ihren Spaß? Was bewegt Dich dazu, ihren persönlichen Geschmack kritisieren zu wollen? Weil Du willst, daß sie Deine Meinung als die einzig richtige anerkennen? Vergiß es. :-)
: Habt Ihr da vielleicht auch Probleme? Würd' mich mal brennend interessieren!
Ich habe diesen Aufbruch in die Toleranz vor ein paar Jahren erlebt, ich weiß nicht mehr genau, wann das war und wie es kam. Könnte sein, daß es war, als wir im Auto immer "Anne Kaffekanne" und "Benjamin Blümchen" hören mußte (Radikalkur a la Clockwork Orange) - ich weiß es nicht mehr.
Keep frohlockin'
Friedliebus II (Moralisch-Katholische Wochen)