Re: (Technik) MUSS einfach weiterhin nerven .... ( COUNTRY )


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Beitrag von Mo Joe vom Februar 23. 2006 um 13:47:39:

Als Antwort zu: Re: (Technik) MUSS einfach weiterhin nerven .... ( COUNTRY ) geschrieben von HaPe am Dezember 28. 2005 um 18:19:41:


: Neu war mir aber bis dato, daß Country ausschließlich europäische Wurzeln hat.

Das wäre nicht nur dir neu. Es ist auch falsch. Jetzt bin ich durch Zufall über diese Bemerkung gestolpert und muß leider mal etwas Senf dazugeben, auch, wenn es dein eigentliches Thema nur am Rande berührt und der Thread schon etwas angestaubt ist. Aber vielleicht ist es eine gute Idee, erstmal mit einer kritischen Durchsicht deiner Lektüre anzufangen. Wenn in einem Buch steht, Country habe ausschließlich europäische Wurzeln, dann taugt es nichts. Tut mir leid, wenn ich jetzt mal etwas schlaumeierhaft dozieren muß:

Also, wenn man unbedingt bei dem zweigeteilten Modell bleiben will, dann ist „Blues“ (im weitesten Sinne) schwarz, während „Country“ (auch im weitesten Sinne) weiß, also europäisch ist. Aber dies ist eine sehr praxisferne Einteilung von Musikhistorikern, Plattenlabels oder irgendwelchen „stupid white men“. Die Musiker selbst waren viel zu innovativ, um sich an derartige Grenzen zu halten.
Tatsächlich hat es (unbemerkt vom weißen Country-Publikum) immer Berührungspunkte mit afroamerikanischer Musik gegeben, und heutige Countrymusik ist voll von schwarzen Einflüssen. Man muß sich nur bequemen, genauer hinzuhören.
Die musikalischen Grenzen von „weiߓ und „schwarz“ waren bei der Unterschicht in den Südstaaten viel verwaschener als in der Mittelschicht. vor allem zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Man (Schwarze wie Weiße) sang halt Worksongs und Spirituals auf den Feldern. Das Gleiche gilt für die Folkmusik der obdachlosen Wanderarbeiter und Hobos. In diesen bitterarmen Umfeldern sind Elvis, Carl Perkins und nicht zuletzt Johnny Cash aufgewachsen und musikalisch geprägt worden.

Dann gab es den „Country-Swing“ der 40ger. Zum erstenmal verband sich Country mit Jazz, der ja bekanntlich keine „europäische“ Musik ist. Das hat bis heute Spuren in der Countrymusik hinterlassen. Jazz ist eine der wichtigsten Wurzeln zeitgenössischer Countrymusik, vor allem, was die Instrumentalimprovisation betrifft. Der Stil von Chet Atkins z.B. ist eigentlich eine Form von folkloristischem Jazz. Und Hank Garland, seinerzeit einer der gefragtesten Country-Gitarristen, hat in den 60ern flugs ein paar Bebop-Scheiben aufgenommen und sich damit kurzerhand an die Spitze der Jazz-Gitarristen gesetzt. Ähnlich fließen Country und Bebop bei Lenny Breau zusammen. Kennt den noch jemand? Schade eigentlich. Auch Brent Mason spielt einen vorzüglichen Jazz. Der Schritt zum Jazz fällt den technisch versierten Countrygitarristen deshalb so leicht, weil das Improvisationskonzept der Countrygitarre (schnelle Skalenwechsel, Wechsel zwischen Arpeggien und Chromatisierungen, Läufe über verminderte Akkorde und dergleichen) dem des Jazz sehr viel ähnlicher ist, als etwa die Bluesimprovisation mit ihrer weitgehenden „Skalentreue“. Auch wenn es musikhistorisch abwegig erscheint: Aus gitarristischer Sicht ist die Countrymusik viel näher am Jazz, als der Blues (ich weiß, jetzt schreien einige auf).
Und schließlich der Rockabilly: Das war doch nichts anderes, als schwarzer Rythm & Blues mit „weißen Mitteln“. Seit dem Rockabilly hat es immer wieder Verbindungen aus Country und Rock gegeben. Bis heute ist der Rockabilly aus den Gitarrenriffs der 08/15-Countrymusik herauszuhören. Wo Countrymusik rockig wird, wird sie immer auch ein bischen „schwarz“.

Ich könnte noch etliche Beispiele aufzählen, so z.B. die sehr enge Verbindung aus Countrymusik mit karibischer Musik und vor allem mit hawaiianischer Folklore – neben dem irischen Eifluß vielleicht die wichtigste Country-Wurzel überhaupt. Und Hawaii liegt bekanntlich ganz in der Nähe von Europa. Das charakteristische Countryinstrument, die Steelguitar, resultiert ebenso aus der Verbindung mit Hawaii wie die zweistimmige Melodieführung in 6th-Intervallen. Und die vielen Bendings, ohne die Countrygitarre nicht zu denken ist. Diese Technik stammt ebenfalls aus Hawaii, sowie aus dem Blues. In der europäischen Gitarrentradition ist sie völlig unbekannt. Oder nehmen wir das Banjo: Eine afrikanische Erfindung (nicht etwa eine irische). Und so geht es weiter und weiter, man muß nur genauer hinhören.

Also ich weiß nicht, warum man - vor allem in den USA - immer an diesem Mythos der "rein europäischen" Countrymusik festhält. Vielleicht glaubt man, alles, was eine große Terz hat, sei "europäisch". Die Countrymusik selbst jedenfalls pflegt unentwirrbare Querverbindungen zwischen den Subkulturen. Sie ist viel stärker durchsetzt mit allen möglichen ethnischen Einflüssen, als immer behauptet wird. Vielleicht wäre es ein Problem für viele „WASPs“ (white anglo-saxon protestants), wenn ausgerechnet ihre identitätsstiftende, „reine“ Countrymusik, mit der sie sich von Amerikas Völkergemisch abgrenzen wollen, sich als irisch-hawaiianisch-afrikanisch-alpenländisch-ungarisch-yiddisch-spanischer Mix erweisen würde, der obendrein viele Elemente der Sinti-und-Roma-Folklore enthält...
Jedenfalls, wenn du ein Buch hast, in dem steht, Country hätte „ausschließlich europäische Wurzeln“, dann habe ich einen heißen Tipp für dich: schmeiß es weg.

So, das mußte ich jetzt mal loswerden.

Gruß, Mo



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