Re: (Meinung) Mein Problem mit "innovativ"


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Beitrag von Kurt vom Juni 14. 2005 um 20:48:05:

Als Antwort zu: Re: (Meinung) Mein Problem mit geschrieben von Bernd am Juni 14. 2005 um 13:33:26:

Hallo Gemeinde,

: Der Ausdruck "innovativ" gefällt mir sowieso nicht. Das ist eine Worthülse, die Politiker und Musikkritiker verwenden.
:
: Im Zusammenhang mit Musik würde ich eher von "originell" oder "kreativ" sprechen. Was originell ist, darüber kann man sich streiten. Hier mein Vorschlag zur Abgrenzung: originell ist ein Musiker dann, wenn er etwas hinbekommt
:
: - was man vorher noch nie so gehört hat,
: - was sich trotzdem (oder gerade deshalb) gut anhört
: - was normalerweise nicht im WDR, bei HR3, SWR, Bayern 3 gesendet würde (oder höchstens in Auszügen 2 Minuten vor den Nachrichten).
:
:
: Unter diese Definition fallen dann für mich z.B. die Beatles, Johann Sebastian Bach, Jimmy Hendrix, Dire Straits...


Dem würde ich mich auch anschließen. "Innovativ" klingt so nach Wirtschaftsleistung/produktiv. Der Begriff "originell" ist offener, "kreativ" paßt am besten zu unserem Genre.

"Innovativ" ist natürlich auch eine Frage der Zeit: Wer heute Beat-Musik à la Lennon/McCartney macht oder gar covert, ist nicht innovativ. "Kreativ" ist schon, wer selbstkomponierte Beat-Musik spielt - oder sie eben originell covert.

Die ganze Diskussion hier ging doch los, weil Rolli Kritik an "Rock am Ring" geübt hat:

1. es hat ihm (weitestgehend) nicht gefallen --> persönliche Geschmackssache (?)
2. er hat genau hingehört und analysiert: aha, die Jungs spielen einfache Akkordfolgen, jedes Stück ist harmonisch gleich aufgebaut --> Banale und langweilige Kompositionen
3. er hat genau hingehört und hingesehen und festgestellt: die Jungs spielen technisch nicht sauber (greifen falsch) und/oder können nur Lagerfeuer-Akkorde, --> sie beherrschen ihr Instrument nicht
4. er hat in seinem Leben schon viel Musik gehört und stellt fest: das ist nix neues, das sind aufgewärmte Kamellen --> die Jungs sind nicht innovativ oder kreativ.
5. er hat genau hingehört und die Musi auf sich wirken lassen: die Jungs berühren mich emotional nicht, sie bringen nix rüber


Meine Meinung zu diesen 5 Punkten:

ad 1) Geschmack - guten oder schlechten, wer mag das beurteilen - hat jeder, ob Musiker, Musiktheoretiker oder Laie. Das hat nix mit "guter" oder "schlechter", innovativer oder kreativer Musik zu tun. "Telemann enttäuscht nie" - daß Telemann ein begnadeter Barock-Kompositeur war, ist gemeinhin unbestritten, aber es ist für jedermann legitim zu sagen: "Mir gefällt das nicht, das finde ich nicht gut". Zu sagen "Das IST nicht gut", ist was anderes, Geschmack allein darf nicht die Grundlage der Musikkritik sein! Und das wird mir hier in vielen vorausgegangenen Postings zu wenig differenziert!

ad 2) Dazu muß man Musiker sein oder Musiktheroetiker, das kann nicht jeder. Der Musikkritiker müßte demnach die größten Teile des Gebiets "Blues" als "schlecht" weil nicht innovativ abstempeln. Ich habe als "Musik-Insider" (d.h. mit einer gewissen Vorbildung) den Vorteil erkennen zu können, warum ich die eine Art von Musik oder Band als gut/innovativ/kreativ finde und die andere nicht. Für mich ist diese Kategorie "Komplexität" oder das "Noch-Nie-Dagewesene" schon eher geeignet, die Musik als "gut" oder "schlecht" einzustufen, aber ein alleiniges Kriterium ist es nicht.

ad 3) Auch da tut sich ein Musik-Insider natürlich leichter. Der Laie wird sagen: "die spielen nicht gut", ohne genau sagen zu können, woran das liegt (Meistens ist es die Rhythmusgruppe, die den Beat/Groove nicht tight zusammenhalten kann). Ich muß als Punker nicht alle 5 Umkehrungen eines Eb-moll-maj7#11 beherrschen, aber Powerchords schon. Letztere brauche ich als Jazzer wieder weniger und es macht nix, wenn ich sie nicht parat habe. Aber dieses Kriterium ist ok: wer sein Instrument für die Art von Musik, die er macht, nicht beherrscht, der muß sich Kritik gefallen lassen.

Ad 4) Innovation und Kreativität sind wichtige Kriterien: unerhörte Musik, die heute (aus Geschmacks- oder Gewohnheitsgründen) als schlecht abgetan wird, wird in 20 Jahren retrospektiv als hörenswert weil bahnbrechend, bedeutsam, wichtig und damit irgendwie als "gut" eingestuft werden. Das ging Maurice Ravel mit seinem Bolero ebenso wie Charlie Parker, Elvis, Hendrix, Cobain (letzterer ist vielleicht noch zu zeitnah, um die Bedeutung angemessen einschätzen zu können. Außerdem habe ich viele in dieser Aufzählung vergessen, mea maxima culpa).

Ad 5) Das geht wieder sehr in Richtung Geschmackssache, aber es gibt m.E. auch absolute Kriterien dafür. Allerdings muß ich in der jeweiligen Musikrichtung auch vorbelastet sein, d.h. schon viel vergleichbares gehört haben. Ich bin z.B. Jazzer und höre so gut wie nie Hard Rock/Metal/Punk/Grunge. Ich denke, ich kann nur sehr eingeschränkt beurteilen, ob eine Metal-Band emotional was rüberbringt, ob sie auf einem gewissen Energieniveau spielt oder nicht. Ich spielte mal einem Kollegen eine Jazz-Gesangsnummer vor, bei sogar von der sterilen CD runter die Luft knisterte - für ihn (er hört viel Musik aber nie Jazz) total langweilig. Er konnte mit der Musik nichts anfangen (Geschmackssache!), daher hat sie ihn emotional auch nicht berührt. Andersrum gibts Jazzmusik, die technisch erstklassig gespielt ist, aber für mich emotional nix rüberbringt, Paradebeispiel: Wynton Marsalis. Da höre ich 10mal lieber Neil Young.
Außerdem hängen die "Vibrations" sehr von der aktuellen Umgebung des Musik-Erlebens ab: Rock am Ring berührt live sicher viel mehr als von der DVD.
An den "Vibrations" bilde ich mir ein, erkennen zu können, ob die Musik den Musikern wichtig ist, oder ob es sich primär um ein kommerzielles Produkt handelt. Das soll aber nicht heißen, daß mit kommerziell erfolgreicher Musik keine Emotionen rüberkommen können!

Wenn wir uns hier als Richter über Musik aufschwingen und auf "gut" oder "schlecht" urteilen, dann sollte der persönliche Geschmack außen vor bleiben oder als selbiger kenntlich gemacht werden, sonst wird man schnell unsachlich.

Wie stufe ich (Kurt) nun Musik als gut oder schlecht ein?

Techno und alles Mögliche an Drum'n'Bass war/ist sicherlich innovativ - mein Ding ist es nicht: der monotone Puls auf jedem Beat des Taktes ist mir rhythmisch zu banal. Das gilt übrigens auch für einen berühmten Jazzpianisten namens Errol Garner, der den Stil/Begriff "four in a bar" (gemeint ist einen Piano-Akkord auf jeden Taktschlag zu legen) prägte, oder für die Art von Rockbass, den Akkord-Grundton auf jeden Beat des Takts zu legen. Ich kann also (analytisch) erklären oder untermauern, warum mir diese Arten von Musik meist nicht gefallen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich bin ein sehr rhythmischer Musiker, es ist für mich sehr wichtig, daß sich rhythmisch einem Stück was tut mit pfiffigen Basslines, Drum-Patterns, Grooves, aber d.h. nicht ständig wechselnde Rhythmen, o Gott nein! Aber Punk oder Rock'n'Roll à la Bill Hayley sind mir zu eintönig, auch abgesehen von den harmonischen Strukturen. Wenn sich rhythmisch nix tut, z.b. bei Balladen, dann sollten wenigstens die Harmonien oder Melodien interessant, mein Zuhören fordernd, ja: auch komplex sein, damit für mich die Musik "gut" ist.

Innovation und Kreativität zollen mir allerdings Respekt ab: wenn ich z.B. Techno bewußt auf - was weiß ich - sphärische Sound-Metamorphosen oder dergleichen hin intensiv höre, dann finde ich das auch gut und es kann mir auch (mal) gefallen, so daß ich sage: ja, das ist gute und kreative Musik.
Eine Band aus 15- bis 17jährigen, die einen ollen Gassenhauser-Schmachtfetzen als Fun-Punk bringt ist super kreativ!! Auch wenn es schon Vorläufer gab, die sowas bereits machten. Die Punker, die das auf ihrer 5. CD immer noch tun, sind nicht (mehr) kreativ.

Ich glaube, ich kann auch "gut gemachte" Musik erkennen, auch wenn sie mir nicht gefällt, z.B.
Status Quo: solider Rock, astrein gemacht. Aber der Rock'nRoll Groove ödet mich an. Und Sound und Groove sind immer dasselbe.
Norah Jones: hat ne Schöne stimme, schöne leichte Arrangements, ansprechende Titelauswahl. Trotzdem schlafe ich ein beim Hören, bei mir kommt nix an.

Das Kriterium "Erkennbar" finde ich nicht passend, und es entscheidet auch nicht darüber, ob mir Musik gefällt oder nicht. Es gibt viele Musiker, die sind an ihrem SPiel erkennbar und in ihrer Art sehr individuell: Scofield, Metheny, aber auch Heino erkennt man am indiviuellen Gesang ... Und Nachahmer haben den Malus des nicht-kreativ seins und sie werden immer am Vorbild gemessen: Hätte es keinen Freddie Mercury gegeben, Paul Rogers wäre mit Queen heute der Größte ... (aber hätte es Queen ohne Freddie gegeben? Siehste!).

Die Musikkritik ist ein schwieriges Geschäft. Tun sich Literaturkritiker leichter? Konsalik schrieb banale Romane, aber für den Urlaub sind sie gut genug - genauso taugt Boney M. dazu, sich auf dem Rummelplatz beim Autoscooter-Fahren berieseln zu lassen.

Sartre sagte: Wenn ein Buch nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, dann ist es auch nicht wert, einmal gelesen zu werden. Das ist gut auf Musik übertragbar, finde ich: Ist die zu beurteilende Musik es wert, ein zweites Mal, mit intensiver Aufmerksamkeit, gehört zu werden?

Groovigen Grooß
Kurt


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