Re: (Philosophie) Gitarren, GAS und Politik/Moral
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Beitrag von erniecaster vom September 14. 2006 um 19:54:45:
Als Antwort zu: (Philosophie) Gitarren, GAS und Politik/Moral geschrieben von rolli am September 11. 2006 um 22:13:45:
Lieber rolli,
es ist schon sehr viel Gutes geschrieben worden, da will ich noch ein wenig Kontra geben.
Auch Kurt Listug und Bob Taylor haben ein Recht darauf, zu glauben, was sie wollen. Dieser Punkt ist mir bisher zu kurz gekommen. Ich habe auch noch nicht gehört, dass Nutzer einer Taylor zur Missionierung herangezogen werden. Bei Blueridge habe ich riesige Kreuze auf einer Kopfplatte gesehen - das würde mich stören, obwohl ich dem Christentum erheblich näher stehe als Scientology.
Nächster Punkt. Unterstützt der Taylor-Käufer wirklich Scientology? Wenn wir Scientology als Sekte sehen wollen (ich sehe das so aber auch das ist eine Definitionsfrage!), dann müssten wir die beiden Herren als Opfer einstufen, nicht als Täter. Dann ist Hilfe angesagt, nicht Konfrontation.
Davon mal abgesehen, leben vom Verkauf einer Taylor auch der Verkäufer im Musikladen nebenan, der Vertrieb, der Spediteur, die Werbeabteilung von Gitarre&Bass und nicht zuletzt die Mitarbeiter am Band und im Büro von Taylor. Wer von all denen hat den größten Schaden bei einer flächendeckenden Boykottaktion?
Und woher weiß ich, dass der nette Gitarrenbauer oder sein Mitarbeiter von nebenan nicht doch ein rechtsradikaler Kinderpornograph ist, der auch noch seinen Müll nicht trennt? Das ist verdammt schwierig.
Die Einstellung in den Köpfen eines Menschen für den Kauf eines Gegenstands heranziehen zu wollen, erscheint mir merkwürdig. Ich kann einem Gitarrenbauer guten Gewissens sagen, dass ich kein Binding aus Elfenbein und keine Einlagen aus Schildpatt kaufen werde. Dann baut er was ohne den politisch unkorrekten Kram und gut. Da ist ziemlich emotionslos zu diskutieren.
Der Punkt der Herstellerländer ist auch nicht so einfach, wie er hier immer dargestellt wird. Auch Mitteleuropa war vor einigen hundert Jahren eine Gegend der Ausbeuterei und Umweltzerstörung. Können wir anderen Ländern guten Gewissens vorwerfen, dass sie sich verhalten wie wir damals? China lernt jedenfalls rasant - dafür haben wir länger gebraucht.
Was wäre passiert, wenn ich nicht diese wunderbare orange Ibanez Artcore gekauft hätte? Sie würde vermutlich noch bei Thomann im Hochregallager vor sich hin stauben und ich wäre nicht so ein glücklicher Mensch wie jetzt. Mehr nicht.
Politisch korrekt? Ja, ich auch. Ich fahre sparsam Auto, kaufe mein Brot beim Biobäcker nebenan und das Fleisch bei einem alteingesessenen Schlachter. Gemüse auf dem Markt und Eier von glücklichen Bäumen. Selbst die Imkerin meines Honigs kenne ich. Und mein Kaffee ist sogar aus Fair Trade. In der Ecke der unverantwortlichen und gedankenlosen Schwachköpfe mag ich nicht stehen. Dennoch: Ich würde mir sofort eine Taylor kaufen, wenn ich eine wollte. Und meine wunderbare chinesische Gitarre strahlt mich aus der Ecke an und ich strahle zurück.
Mortadella mit Gesicht - das ist zynisch.
Gruß
erniecaster
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