Re: (Philosophie) musikalische Leichenfledderei


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Beitrag von Harvey vom September 23. 2000 um 19:03:53:

Als Antwort zu: Re: (Philosophie) musikalische Leichenfledderei geschrieben von Friedlieb am September 23. 2000 um 11:25:53:

Na ja, man schreibt sich eben so in Rage ... ein paar Stunden oder einen Tag später fallen mir auch noch andere Aspekte ein, man kann alles von tausend Seiten sehen.

Jede Einzelaussage ist ja für sich immer begrenzt, sie schließt ein und aus, kann nie alles auf einmal beleuchten. Man sieht eben immer nur eine Seite einer Münze zu einer Zeit.

Du hast völlig Recht, die Grenzen sind fließend, und es IST ein schwieriges Thema.

: Und dann ein weiterer Aspekt, der auch in Harveys Posting (ohne daß Harvey den Unterschied so deutlich machen würde) eine Rolle spielt: Man bedient sich nicht der Stimme oder des Instruments eines Dahingeschiedenen, sondern eines anderen Ergebnisses seiner kreativen Phase, nämlich seiner Noten. Will sagen: Coverversionen. Betreibe nicht auch ich Leichenfledderei, wenn ich mich mit meinen krummen Fingern an dem Intro von Little Wing versuche und dabei das Andenken des Meisters in den Schmutz ziehe?

Also DU als Aussensaiter bestimmt nicht, wir sind ja jenseits ;-)). Ansonsten aber auch: Nö.

In der Klassik beispielsweise wird ja hauptsächlich nachgespielt - der Spielraum für eigene Interpretationen ist da natürlich enger als bei einer Cover-Version im Pop-Bereich. Eine Cover-Version kann ja sehr originell sein, da kann eine Menge an eigener schöpferischer Leistung drinstecken. Solange zitiert wird und nicht geklaut, solange der Urheber genant wird, ist das ja in Ordnung.

Und wenn jemand die Musik eines anderen haargenau kopiert, ist das auch zunächst mal sein Privatvergnügen. Ist ja eigentlich ein kindliche Phase - wir alle lernen zunächst von anderen, zum Beispiel das Sprechen, und machen dan irgendwann etwas Eigenständiges daraus (oder auch nicht).
Ich persönlich fände es für mich selbst nur irgendwann bedenklich, wenn mir nichts Eigenes mehr einfiele oder ich nicht die Musik nachspielte, sondern die Identität der Person übernähme und mich dann irgendwann für den anderen hielte. Schon mal Elvis-Wettbewerbe gesehen ?

Das ist von außen oft schwierig zu beurteilen, ob das Imitieren eine schöpferische Leistung ist oder eine krankhafte Identitätsflucht. Gary Moore z.B. war in seiner Jugend von Peter Green begeistert und hat dann vor ein paar Jahren eine CD mit alten Fleetwood-Mac- und John-Mayall-Stücken eingespielt - mit dem selben Sound (sogar der selben Gitarre), dem selben Gefühl - man könnte meinen, Green selbst habe das eingespielt (nur noch ein bißchen besser...). Die Platte war als Referenz, als Widmung an einen großen Gitarristen gedacht, um seine Musik noch mal unter die Leute zu bringen (was man zugegebenerweise auch anders hätte machen können). Da das eine begrenzte, in sich abgeschlossen Geschichte war und der gute Gary auch ein Unzahl anderer Dinge in die Welt gebracht hat, die auf seinem eigenen Mist gewachsen sind, finde ich das auch in Ordnung (wobei ich mich wie immer täuschen kann, aber das muß man nicht hinter jedem Satz sagen, das ist sowie klar). Mag auch sein, daß er sich darüber profilieren wollte oder von sich selbst und seinem Edelmut ganz ergriffen war. Ob Greeny daran was verdient hat, weiß ich nicht, er könnt´s gebrauchen, ihm geht´s ja offensichtlich nicht so gut ...

Was Natalie Cole und Kenny G machen, ist aber noch was völlig anderes, die wühlen im Kunstwerk eines anderen herum, der sich nicht mehr dagegen wehren kann - das ist für mich so, als schriebe ich einen berühmten Roman um, statt selbst einen aus mir zu schöpfen (es gibt ja schon interaktive Romane, wir sind alle Autoren !), oder malte die Gioconda in meinem Sinne "zu Ende". Und sie benutzen die Popularität eines Größeren, um auf sich selbst aufmerksam zu machen, weil es dazu bei dem, was sie selbst aus sich entwickeln, nicht reicht.

Es ist immer ein Unterschied, ob ich etwas völlig Neues in die Welt bringe oder erst auf Vorhandenes zurückgreife, um es zu verwerten. J.S. Bachs Air ist so etwas völlig Neues, die Rap-Version nur bedingt. J.S. kommt ohne die Rap-Version aus, umgekehrt ist dem nicht so. Erst kommt Mona Lisa, dann die Collage.


: Und ist nicht Hey Joe auch von einem unbekannten Billy Roberts geschrieben worden und von Hendrix bloß gecovert? Hat der etwa selbst gefleddert? Und wer zur Hölle kann mir mehr zu diesem Billy Roberts sagen?

Zu Billy kann ich Dir leider eben nichts vermelden, typischerweise. Die im Dunkeln sieht man nicht ...

Wie gesagt, das Covern ist ja legitim, ich kann einen Song ja in meiner Weise interpretieren - wenn ich dabei nicht den Urheber verdränge, seine Rechte respektiere und seine persönliche Version nicht antaste. Ein Buch zu schreiben oder eine CD herauszubringen ist ja so ähnlich wie das Gebären eines Kindes - das Kind trennt sich von den Eltern und hat ein Eigenleben, das man dann (auch zum Glück) nicht mehr im Griff hat. Dein Buch wird ja nicht nur von Leuten gekauft , die Du persönlich auswählst, und Du kannst den Lesern auch nicht vorschreiben, wie sie es zu interpretieren haben, bzw. es ist sinnlos, das zu versuchen. Wenn Du es in die Welt entlassen hast, macht die Welt auch u.U. was anderes damit, als Du geplant hast. Und wenn jemand Deinen Song hört und ihn in seiner Art neu aufnimmt - solange er Deine Rechte respektiert, kann er damit ja machen, was er will. Worin diese Rechte jetzt bestehen oder bestehen solten, das ist wieder klärungsbedürftig ...

: Müssen wir nicht den Rappern zugestehen, daß sie unsere geliebten Stücke in ihrer favorisierten Musikrichtung neu interpretieren? Ist das für die nicht auch ein Akt der Ehrerbietung gegenüber diesen Stücken? Wurde Every Breath you take verhunzt oder erweist der Rapper dem Stück seine Referenz? Warum ist die Cover-Platte von Metallica so erfolgreich? Haben wir nicht auch damals gegröhlt, wenn wir eine Hardrock-Version von Jingle Bells spielten? Ein gerngehörtes Stück ins neue (von uns favorisierte) Kleid gepackt? Müssen wir das den Rappern und Technoten nicht auch zugestehen? Oder ist das dann was völlig anderes?

Was den Rap angeht, kann ich nur subjektiv urteilen - mir ist das meist viel zu ähnlich, zu monoton, diese dauernden "Parlando-Passagen im Non-Melody-Stil", und wenn mal eine interessante Stelle kommt, ist sie geklaut oder gesampelt. Ob das Verwenden bekannter Passagen eine ehrerbietige Referenz oder eine Bankrotterklärung ist, kann ich als Hörer nur für mich selbst entscheiden, solange ich den Interpreten und seine Hintergründe und Motive nicht kenne.

: Ist Leichenfledderei nur dann Leichenfledderei, wenn das Ergebnis des Fledderns Geld bringt, es sozusagen aus niederen Motiven erfolgt? Und wer fällt das Urteil?

Es gibt noch ganz ander niedere Motive ... und das Urteil fällt sowieso jeder selbst, für sich, wer sonst.

: Wie gesagt, ein schwieriges Thema...

Du sagst es.

: Keep rockin'

Sowieso ;-)





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