Re: Sorry, Matthias!Beitrag von Silvio vom September 09. 2000 um 00:59:19: Als Antwort zu: Sorry, Matthias! geschrieben von Clem am September 08. 2000 um 23:33:16: Hallo Clem & alle anderen Ich glaube, was Matthias sagen wollte ist, dass die Materie "Jazz" dem interessierten Laien wie z. B. ich einer bin vielfach als absolut theoretisch fundiertes Kunstgebilde vermittelt wird und dass man ohne das ganze Theoriezeugs keine Chance hat. Ich will mal zur Illustration meinen konkreten Fall schildern: Was macht also der interessierte Laie? Er kauft sich mal ein Buch. Bei mir war es mal "Haunschild's Harmonielehre I&II" und son "Jazz Guitar" Buch, dessen Name mir leider entfallen ist. Und da sass ich nun, mit seitenweise Theorie über II-V-I und Zwischendominanten, über Turnarounds und Alterierten Skalen. Klar hatte es da auch ein paar Jam-Tracks dazu, doch so sehr ich mich abmühte, auf den angegebenen Skalen, die zu allem Überfluss noch alle 2 Takte wechselten, ein paar Melodien zu kreieren, ich scheiterte. Natürlich habe ich mich auch weiter umgeschaut, nach Literatur, welche dem eigentlichen Spielen gewidmet ist - für Gitarre nichts zu haben. In den Wintersemesterferien habe ich (vielleicht habe ich es hier mal erzählt) ein bisschen begonnen, Trompete zu spielen (habe es wieder aufgegeben), nur soviel: Ich hatte ein Buch, für absolute Anfänger, mit ein paar mittelschweren Jazz-Standards-Melodielinien. Dazu gab es auch immer wieder Anregungen zu Improvisation, aber nichts von all der Theorie, durch die ich mich mal zu kämfen versucht hatte. Nein, es gab einfach ein paar Töne als Anregung und den Tip, mal frisch von der Leber weg zu spielen - und zwar über Progressions, bei denen ich mit meinem Wissen nicht sagen könnte, wo denn genau welche Tonart ist und was das ganze im harmonischen Kontext bedeutet. Jedenfalls funktionierte das prächtig. Doch so ein Buch, speziell für Gitarre, fand ich nirgends, obwohl es wohl das 50fache an Anfängerliteratur für Gitarre als für Trompete gibt. Deshalb wohl auch das in der Gitarrenszene herrschende Vorurteil, dass Jazzer einfach blutleere Theoretiker sind - stimmt natürlich überhaupt nicht, aber diese Gedanken kommen, wenn man sich mit einem Ansatz abmüht, welcher eher mit Quantenphysik als mit Musik in Verbindung zu bringen ist. Clem, Du vergleichst in deinem Beitrag Musik mit Kunst - ich will sie hier mit Sprache vergleichen. Da meine Hochschule eine gesamtschweizerische ist, bin ich durch mein Studium und insbesondere durch unsere Bigband, wo wir Deutschschweizer (vor allem im Pub nachher :-) eine Minderheit darstellen, in ein vielsprachigeres Umfeld gekommen als in der Schule. Ein guter Freund von mir ist aus dem Welschland und da er erst seit einem Jahr in Zürich studiert, spricht er naturgemäss mit un peu d'accent. Da er sich ziemlich Mühe gibt, sein Deutsch zu perfektionieren werde ich immer wieder mit Fragen über deutsche Grammatik konfrontiert, welche ich nur mit Mühe mit meinem Schulwissen beantworten kann - geschweige denn Fragen über Grammatikregeln im Schweizerdeutschen, wovon es erstens keine niedergeschriebenen gibt und die hier halt auch keinen interessieren, da sowas nicht als Prüfungsfach in der Schule gelernt wird ;-) Aber für ihn sind sie essentiell, denn er kann sich nicht einfach auf irgendein einprogrammiertes Sprachgefühl verlassen, sondern braucht solche Regeln, um eine gewisse Logik zu schaffen, auf deren Basis er nach und nach ein Sprachgefühl aufbauen kann. Und das trifft imho genau den Punkt. Die ganze Jazztheorie verhält sich zur Musik wie die Grammatikregeln zur Sprache: Sie ist ein Versuch, in dieser komplexen Materie, welche eigentlich fürs Gefühl bestimmt ist, eine gewisse Logik zu schaffen, wobei sie im Detail naturgemäss zum Scheitern verurteilt ist, da sich das Gefühl nicht an eine Theorie hält. Aber es ist der einzige rationale Ansatz, wenn auch ein sehr grober. So, und jetzt habe ich wieder mal ausgiebig meine Tipptechnik verbessert und kann beruhigt schlafen :-) Silvio
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