Re: (Band) Disziplin?


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Beitrag von Herr Holle vom April 16. 2002 um 22:57:51:

Als Antwort zu: (Band) Disziplin? geschrieben von Lukas am April 15. 2002 um 18:12:36:

Hallo Lukas,

Vor einigen Monaten hatte ich und meine Band das gleiche Problem. Wir steckten gerade in einem kreativen Loch, die Proben waren extrem chaotisch und wir kamen seit Wochen nicht weiter. Unzufriedenheit machte sich breit, nicht nur bei mir, alle beklagten sich, aber niemand tat etwas dagegen.
Als wir dann noch versuchten, ein paar Songs in halbwegs brauchbarer Qualität aufzunehmen (die dafür erforderliche Geduld wollte aber keiner aufbringen) und ich (zum Tontechniker verdammt, weil sich sonst keiner mit dem Recorder auskannte) bei dem Versuch, die Aufnahmen abzuhören und die Instrumente einzupegeln, gegen unkoordiniertes Schlagzeug- Gitarren- und Keyboardgefuddel ankämpfen musste (teilweise wurde auch noch versucht, an den Songs herumzubasteln), war bei mir dann wirklich Schicht im Schacht. Die Aufforderung "mal zurz leise zu sein" zeigte für ca. 30 Sekunden Wirkung. Mein zunehmend ruppiger Ton blieb unbemerkt (war schon später am Abend), und als dann endlich der befreiende Anschiss kam, war's längst zu spät.

Die Sache lies mir keine Ruhe,und so habe ich darüber nachgedacht, wo denn jetzt eigentlich das Problem lag. (Es ging ja nicht nur um einen chaotischen Abend, sondern um eine grundsätzliche Krise.)


Meine Erkenntnisse:

1. Wir haben Ziele. Wir haben sogar alle die gleichen Ziele. Beste Voraussetzungen also.

2. Obwohl Unsere Ziele recht bescheiden sind, ist ihre Verwirklichung mit viel harter Arbeit verbunden. Eigentlich trivial, aber so was wird schnell mal übersehen. Mir ist das vorher auch nicht so deutlich bewußt gewesen.

3. Um Arbeiten zu können, brauchen wir nicht nur Disziplin, sondern vor allem: Struktur und ein paar Regeln. Und die hatten wir überhaupt nicht. Hier lag das Problem.

4. Wir machen Musik als Hobby, also nur weil's Spaß macht. Struktur und Regeln dürfen den Spaß also nicht beeinträchtigen. Da wir in den vergangenen Wochen mehr Chaos als Musik produziert hatten, war der Spaß dem Frust gewichen. Folge: fehlende Motivation, keine Disziplin, wildes Herumgefuddel...


Ich habe dann begonnen, ein paar Regeln und und einen Ablaufplan für die Proben aufzuschreiben. Das klingt kleinkariert, meine Bandkollegen waren auch etwas irritiert, als ich bei der nächsten Probe damit ankam, aber ich habe klar gestellt, dass die Struktur nicht zu streng ausgelegt werden soll, sondern nur als grobe Zielvorgabe zu verstehen ist. Wichtiger als die Regeln ist das Verständnis für die Ideen, die dahinter stehen.

Hier die Kurzfassung:

1. Ein paar elementare Grundregeln (echt nicht zu viel verlangt):

a) Jeder spielt nur dann wenn er soll.
b) Bei aller Disziplin darf der Spaß nicht zu kurz kommen. Also nicht zu sehr in eine Sache verrennen, wenn die anderen nicht mitziehen.

2. Probenablauf:

a) Instrumente aus und ein Ziel für die Probe festlegen: An einem Song arbeiten, Aufnahme etc. Nicht zu viel. Berücksichtigen, wenn jemand früher gehen muss. Auch die Verfassung einzelner Bandmitglieder berücksichtigen (nach ner Frühschicht ist die Konzentrationsfähigkeit nun mal nicht die beste...)

b) Warm spielen. Dabei soll der Kopf frei bleiben für die Arbeit. Also nicht sofort an den Songs herumbasteln (auch "Verbessern" genannt), sondern nur vertrautes Material so spielen, wie wir es immer spielen. Auch Jammen am Anfang ist suboptimal, da man da nur verrückte Ideen bekommt, die dann bei der Arbeit nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen... Manchmal kann aber gerade das sehr produktiv sein. Ausprobieren.

c) Der Arbeitsteil. Diszipliniert arbeiten, und wenns mal überhaupt nicht mehr weiter geht, Pause machen oder doch mal locker was anderes spielen. Aber immer schön die Konzentrationsfähigkeit im Auge behalten.

d) Spass-Teil. Der Übergang vom Arbeits-Teil zum Spaß-Teil ist meistens fließend. Man sollte aber den Punkt erkennen, wo es kein Zurück mehr gibt. Da sollte man dann auch nix mehr erzwingen, das führt nur zu Frust.

e) Reflexion und Analyse. Sind wir unserem anfangs gesteckten Ziel näher gekommen? Wenn nicht, worann lag's? Hat jemand permanent gestört, hat jemand nen schlechten Tag gehabt, oder war einfach nur der Wurm drin? Solange der Wurm sich nicht fest einnistet, ist es OK, wenn das gelegentlich passiert. Oder haben wir uns einfach nur zu viel vorgenommen?


Gezz drehter völlich app...


Aber der letzte Punkt wirklich enorm wichtig. Ich denke, jeder macht sich darüber Gedanken, wenn es nicht gut läuft. Die meisten reden mit irgendwem darüber. Das ist der Fehler. Erzähl Dein Problem nicht den Aussensaitern, sondern deinen Bandkollegen. Obwohl wir hier gerne an den Problemen anderer Leute teil haben :-)

Schaffe die passenden Rahmenbedingungen für ein Gespräch. Ein Gespräch ist nicht konstruktiv, wenn Du gegen den Krach anschreien musst. Auch eine umgehängte Gitarre ist hinderlich. Nach 30 Sekunden kommen die Urinstinkte durch, auch bei ausgeschaltetem Verstärker. Ein Schlagzeuger, der hinter mehreren m² Blech und Fell verborgen ist, ist nicht angemessen an der Kommunikation beteiligt. Betrunkene und/oder bekiffte Bandkollegen übrigens auch nicht, auch wenn die das Gegenteil behaupten.
Setzt Euch in Ruhe zusammen und klärt, was immer Ihr zu klären habt. Amen.


[Ende der Predigt]


Und unsere Band?
Wir haben die schriftlich festgehalten Regeln nie so streng befolgt, wie ich sie aufgeschrieben habe. Das habe ich ausdrücklich weder verlangt noch erwartet. Aber geholfen hat es trotzdem. Niemand war beleidigt. Einigen war gar nicht richtig klar gewesen, dass es überhaupt ein Problem gab. Anderen war es schon klar, aber sie haben nie versucht es anzusprechen.
Seit dem ist das Chaos auf ein erträgliches Niveau zurück gegangen (mal ehrlich: ganz ohne Chaos machts nicht so viel Spaß). Manchmal klimpert doch mal jemand dazwischen (auch ich ertappe mich manchmal dabei), aber man muss einfach den Mut aufbringen "Ruhe!" zu sagen. Wenn die Kommunikation funktioniert, dann nimmt das niemand persönlich. Wenn aber niemand sich traut, was zu sagen, wird eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, dass dieses Verhalten in Ordnung sei. Folge für Dich: Frust.

So, jetzt aber genug gesülzt. Ich hoffe, mit meinen Ausschweifungen irgendwie weiter geholfen zu haben.

Mach's gut,

Holle


P.S. @Matthias: Soso, man könnte also Bücher darüber schreiben? Ist ja fast eins geworden ;-)


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