Konzertbericht: Zöpfe in der Zirkuskuppel
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Beitrag von The stooge vom Juli 02. 2002 um 18:35:13:
Willie Nelson im Berliner Tempodrom
42 Euretten sind keine Kleinigkeit, aber nachdem der letzte Berlinauftritt von John Lee Hooker vor drei Jahren gecancelt worden war und er sich dann gemeiner Weise zu seinen Ahnen verfügt hatte, ohne von mir gehört worden zu sein, wollte ich bei Willie Nelson die Chance unbedingt wahrnehmen. Das neue Tempodrom am Anhalterbahnhof kannte ich auch noch nicht und entsprechend hochgesteckt waren die Erwartungen mit denen ich mich Mo abend eben dorthin verfügte. Von dem einstigen luftigen Zirkuszelt und seiner lockeren Atmosphäre ist natürlich nichts gebleiben, jetzt ist es eine Musikkathedrale mit dem Kühlturm eines AKW und einem kreisrunden Innenraum ("Manege") und ansteigenden Zuschauertribünen.
Der Alterduchschnitt des Publikums war hoch, ebenso das Aufkommen an Stetsons und Boots, Manege und Ränge waren locker gefüllt. Bis halb neun tut sich erst mal gar nichts trotz Klatschen und "Willie, Willie" Rufen, dann versammeln sich dort mehrere Roadies mit Backstage-Pässen um den Hals zu einer Art Besprechung. Dann kommt plötzlich Willie selber, nimmt huldvoll den Applaus entgegen und die vermeintlichen Roadies stellen sich als Musiker heraus und greifen zu ihren Instrumenten. Am Start sind außer Willies Nylonstring noch eine Steelstring, eine Semiacoustic (nein, kein Hochpreisprodukt aus Nashville sondern ein schnöde Aria) Piano, Harp (überragend), Bass und ein auf die Snare reduziertes Drumkit, das in seinem Minimalismus kaum zu unterbieten ist. Ich weiß nicht, ob die Tüte vor dem Auftritt die Größe eines Surfbretts oder nur einer koscheren Salami (Kinky Friedmann) hatte, jeden Falls ging man entspannt und gut gelaunt mit einem Medley zur Sache. Anfangs fand der Mann am Mischer noch nicht die richtige Einstellung, man verstolperte sich des öfteren im Takt und war sich auch nicht immer einig darüber ob jetzt Solo oder "Weiter im Text" angesagt war, ließ sich aber davon keineswegs aus der Ruhe bringen. Überhaupt machte das ganze nicht den Eindruck eines disziplinierten Konzerts, sondern einer Kaminzimmer-Session im Blockhaus beim Warmspielen. Willie spielte sich kreuz und quer durch sein nicht ganz kleines Repertoire, lebende und tote Kumpels wurden bedacht (Bobby McGhee, Mamas don't let Your cowboys grow up as babies) Evergreens wie Georgia on my mind durften ebenfalls nicht fehlen. Die Musik swingte sich ein und gewann an Fahrt und spätestens bei The great divide blitzte einer jener seltenen Augenblicke von Magie auf, wo man intuitiv kapiert, dass dieser bescheidene kleine alte Mann dort oben zu Recht einer der Größten ist, zu dem ein aufgeblasenes Großmaul wie Garth Brooks mit seinem albernen Getue auf ewig neidisch hochschielen wird. Und dessen ganzer bombastischer Aufwand nichts bedeutet gegen diese geniale Musik, die so klingt als sei sie das Einfachste auf der Welt. Der Mix war alles andere als laut, so dass man die Unterhaltung seiner Nachbarn ohne weiteres verstehen konnte, aber das Publikum war geradezu andächtig ruhig geworden, auch die hartnäckigsten Gröhler hielten jetzt den Rand und alles wippte und swingte und transpirierte in dem Kühlturm mit, der sich mit der Zeit in eine Art Dampfkochtopf verwandelt hatte. Willie verschwendete seine Zeit nicht mit Dialogen mit dem Publikum und ähnlichen Gimmicks sondern zog Lied um Lied durch, insgesamt spielten sie über 2 1/2 Stunden. Man hatte mal Gelegenheit, Willie ein wenig auf die Finmger zu scheuen, und mir fiel auf was mir an den Konserven entgangen war, dass er aus seiner abgeschrubbten Nylonstring unglaubliche Sachen rausholt, zwischen Western Swing, Spanisch-Mexikanischem, Jazz- Akkorde und ziemlich abgedrehte Double Stops. Das letzte Viertel nahmen die up-tempo Nummern ein (u.a. eine wunderbare Version von Jambalaya), und als es am schönsten und das Publikum kurz vorm ausrasten war, verabschiedete er sich. Ich habe die Ausgabe nicht gereut und kann ihn für den Rest der Tournee jedem nur weiter empfehlen.
God bless You, Willie, mögest Du hundert Jahre alt werden und noch Deinen Ur-Urenkeln vorspielen.
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