Re: (Osterpredigt)Suchet, so wird euer Ton euch finden....?


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Beitrag von burke vom April 10. 2004 um 18:37:36:

Als Antwort zu: (Osterpredigt)Suchet, so wird euer Ton euch finden....? geschrieben von Mo`Lester am April 10. 2004 um 12:52:01:

Moin moin,

nachdenklich stimmt mich dieser Artikel ehrlich gesagt nicht, die Kernaussagen habe ich schon selber in meiner "Gitarristenkarriere" *hüstel* beobachtet.

Ich finde es nach wie vor legitim, von manchen Spielzeugen "angefixt" zu sein, wie gerne hätte ich doch noch gewisse bunte Kisten auf dem Brettl oder ne Fender Combo für manche Cleansounds, oder nen JTM für den Rock-Crunch. Im Moment fände ich es zB sehr interessant, eine Semiakustische zu meinem Fundus zählen zu können, und ne "klassische" Strat mit Singlekeulen für Basteleien mit diversen Schaltungen werde ich mir über kurz oder lang auch mal gönnen. Letzthin hörte ich den angezerrten Sound eines "KOCH"-Röhrenamps bei einem gewissen Herrn Scott Lerner und war hin und weg! Wenn ich mal weiß, wie "meine" definitive Klampfe aussehen soll, werd ich mich bestimmt auch mal bei einem regionalem Gitarrenbauer vorstellen, und träumen ist immer erlaubt. Dafür sollte ich mal meinem studentisch bedingten Dauerpleite-Zustand mal ein Ende setzen...

Auch sitzen Eng(e)lchen und Teufelchen auf jeweils einer Schulter, der Teufel flüstert immer was von blau vynilbezogenen Boxen mit weißem Piping ins Ohr, das Engelchen faselt was von "auch mal üben, um das Instrument mal einigermaßen zu beherrschen", und immerhin hat das Engelchen es auch geschafft, daß ich meinen Horizont auch für Styles geöffnet habe, die meinem Teufelchen gar nicht munden (Jazz/ Chanson/ manche Bluesklamotten etc)... Aber ich hab ja auch noch Zeit, für beides. Ich liebe es, unvoreingenommen zu experimentieren (jawoll, aktive Elektronik mit Impedanzwandlern und Kondensatorbank, aber auch mal hinsetzen und nachbohren, wo die musikalischen Defizite liegen)...

Es ist doch schon irgendwie bezeichnend, daß ich eigentlich kaum einen Aussensaiter kenne und gehört habe, der nicht irgedwelche Customizing-Maßnahmen an seinem Equipment durchführt, fast jeder hier fummelt doch optisch oder technisch am Equipment herum und macht sich seine Gedanken; das "klassische Set von der Stange" findet man hier selten, und das finde ich wahnsinnig spannend. Dazu habe ich selber erlebt, daß so manche hier "Ihren" Signature Sound fahren, egal über welchen Amp oder ob die Klampfe nun ne spitze oder runde Kopfplatte hat (OK, Headless lassen wir mal außen vor, das ist ein schon optisch schwieriges Thema ;-) ).

Dem gepostetem Artikel nach wäre es schon grenzwertig, sich seine Wah-Elektronik aus England kommen zu lassen, diverse Röhren oder W***r-Speaker anzuchecken, von den Moden wie dem Daniel D, der roten Bohne oder dem Delay Modeler von LineSux gar nicht zu sprechen. Die wären nie auf zahlreichen Sessions überproportional anzutreffen gewesen, wenn wir hier nicht in der gegebenen Breite drüber quatschen würden, selbst bei den Plektren sieht man selten "die Standard Tortex-Teile vom Musikladen umme Ecke". Schön, daß es so eine riesen-Database gibt, bei der man sich anfixen lassen kann. Und es macht ja auch ein bisschen glücklich (oder so nervös, daß man das halboffene Hemd zur neuen Gitarre schon beim Nachdenken über Funk-taugliche Ampbezüge unterm neuen Anzug naßschwitzt).

Der Artikel ist sehr vernunftbezogen. Ich habe meine vernunftbezogenen Momente immer dann, wenn ich das Ersatzschaltbild eines Tonabnehmers studiere oder Kennlinien von Röhren mit denen von Mos-FET Transistoren vergleiche. Und ganz besonders vernünftig werde ich stets, wenn ich irgendwelche unbekannten Gitarristen sehe/ höre, die die versammelte Musikerpolizei mit ihrer Low/ Midprice-Yamahastrat (nix gegen Yamaha, ich find die saugut) am Valvestate und digitalem Multieffekt an die Wand spielen. Dann denke ich immer: hättste doch die ganze Zeit der Equipment-Forschung und dem "Quest For Tone" in Üben investiert...

Fassen wir also zusammen: solange die Balance stimmt, finde ich das Basteln und Experimentieren sehr sinnvoll. Man muß ja nicht zwingend fressen, was einem die Industrie serviert. Es gibt einen sehr vielfältigen Markt mit Riesen-Auswahl, das war vor 20-30 Jahren sicherlich anders (Fendergibsonmarshall oder KliraRadioRim?). Es etablieren sich und es bröckeln "Standards", und auch das Internet schafft neue Meinungstrends unter Gitarristen (nicht nur, aber hier erleben wir es besonders deutlich mit). Allerdings kenne ich auch die Kehrseite; Kollegen, die seit zig Jahren in ihrem Keller oder in ihrem Wohnzimmer ganz verrückt nach den Tones der Aufnahmen ihrer Jugend streben, die bei eBäh ein Effektgerät für über 500 EUR kaufen, das ich Euch ohne im Bandkontext relevant hörbare Unterschiede für sagenwirmaldreißigbisfuffzig Euro bauen könnte etc.

Völlig daneben fand ich in dem Artikel allerdings die Parallele zwischen den "ewig Tonsuchenden" und den moralischen Apellen an eine Gesamtansicht der globalen Zustände. Daß unsere Welt sich eigentlich schon immer in einem perversen Güterverteilungskonflikt befindet (seit es die menschliche Zivilsiation gibt), wußten wir schon vorher, und viele wußten es auch schon vor '69. Aber es ist legitim, daß die Entscheidung, welche Tonabnehmer ich mal ausprobieren will, von allen moralisch-existentiellen Problemen dieser Welt völlig differenziert getroffen wird. Insofern finde ich die moralische Keule des Autors im Sinnzusammenhang mit dem Rest des Artikel etwas fehl am Platze, minder gesagt.

Gruß und danke für die Geduld fürs Lesen
burke


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