Zwei auf einen Streich


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Beitrag von ullli vom November 12. 2016 um 00:08:48:

Hallo Stammkneipe,
Heute tobt ja für einige die Session und für andere vielleicht nur die Mikrowelle. Bei mir tobt nicht viel, ich bin ein wenig betrübt. Wegen Leonard, könnte man denken?
Nein, abgesehen vom dem üblichen "den hätte ich gerne noch mal live gesehen" bin ich über Leonard Cohen's Tod gar nicht traurig. Wer 82 Jahre alt wird und dabei noch Platten rausbringt die (nach reichlich auf und ab) wirklich nicht schlecht sind, der muss doch nicht beweint werden? Besonders wenn es so ein weiser Knochen war der mit sich und seiner Umwelt längts Frieden geschlossen hat und quasi schon den Hut bereit liegen hatte falls wer klopft...
Vielleicht ist der Leonard hier bei den Aussensaitern gar nicht so beliebt? Ich habe ja nicht viele Sessions miterlebt, aber seine Musik kam glaube ich nie vor - abgesehen von Hallelujah, aber das anzufassen ist ja beinahe schon eine Straftat, jedenfalls hier auf den Inseln.
Als ich heute morgen aufwachte und fand das Herr Cohen nun tot ist, da war ich eigentlich nur vom Dankesgefühl der Erinnerung erfüllt. Beileibe nicht jedes seiner Lieder hat mir gefallen, seine frühe Stimme war nicht immer angenehm, und viele seiner Gedichte und Lieder habe ich evtl. nie verstanden... aber seit ich in Kindertagen zum ersten Mal seine erste Platte hörte - mit Licht aus, im Bett, mit einer ernsthaft guten Anlage, so wie wichtige Musik erlebt werden soll ;-) - seit dem wusste ich dass Musik eine eigene Sprache ist, das Gefühle vermittelt werden können, das nicht-so-happy endings auch fruchtbar sein können und das hinter dem gut/schlecht Dualismus noch viel Grauraum bleibt.
Besonders wusste ich dass ich eine Gitarre haben will. Und singen will. Und meine Englisch besser werden muss (ich hatte Glück, wir haben damit in der ersten Klasse angefangen).
Später habe ich dann noch andere Dinge gelernt von ihm.
z.B. dass der Besitz einer Gitarre noch keinen Musiker macht. Meiner treu, derartiges Picking verlangt unglaublich viel Üben, eine Tätigkeit die ich leider nie gelernt habe. So stieg meine Verehrung im gleichen Masse wie meine Überzeugung, als Musiker nix zu hoffen zu haben, ich bin dann ja hinter's Mischpult gekrabbelt...
z.B. dass man einem derartigen Künstler noch lange nicht völlige Freiheit geben soll, denn dann verhunzt er evtl. seine tollen Lieder mit gräßlichen Bontempi-Orgeln (was gäbe ich dafür, die "I'm Your Man" neu zu produzieren, mit handgespielten Instrumenten hinter seiner Stimme...)
z.B. dass man Geduld und Ausgeglichenheit lernen kann. Da habe ich noch was vor mir, hoffentlich ist das nicht so astronomisch wie seine Fingerkunst.
Übrigens hatte der nicht nur Schwermut, der hatte trockenen Humor: "I was born like this. I had no choice. I was born with the gift of a golden voice."
Jedenfalls: Danke Dir, Leonard. "You'll be hearing from me, baby, long after I'm gone" - damit rechne ich :-)
Traurig bin ich weil heute auch Victor Bailey gestorben ist. Und da liegt die Sache ganz anders. Der hat zwar auch einige CDs mit für mich schwer erträglichen Fusion Nudeln verbraten. Aber hauptsächlich war Victor ein inspirierender, groovender und ganz bescheidener und lieber Kerl. Hat nicht nur Bass gespielt für die Creme de la Creme sondern jahrelang in Berklee seine Erfahrungen und Kunst an die nächsten Generationen verteilt. In dem kleinen Teil fühle ich als Ausbilder schon so ein bisschen Geistesverwandtschaft (was das Bass spielen angeht auf der anderen Seite... da hätte selbst Leonard's rechte Hand gestutzt. Das versuche ich gar nicht erst...)
Victor Bailey wäre auch ohne Leonard's Ableben heute nicht in der internationalen Presse gemeldet worden, und das hätte ihn gar nicht gestört. Was mich halt schmerzt ist dass er nur 56 wurde, weil er an einer seltenen Krankheit litt, die ihn von unten her langsam abgeschaltet hat. So etwas ist mies. Was für ein Held, wenn man denkt dass er noch am Stock gehend unterrichtet hat, und noch im Rollstuhl spielte bis die Hände dann auch nicht mehr konnten - alldieweil mit einem Lächeln und grosser Herzlichkeit - das kann man man nicht nur Erzählungen seiner Freunde entnehmen, das sieht man. Dieses video verlinke ich nicht weil es sein nahes Ende zeigt - das war auch nicht der Grund warum sein Freund es reingestellt hat. Ich mag es gerne weil es schön anzuhören ist. "bum notes" sind mir lieber als klinische Perfektion, ich freue mich einfach nur am Zusammenspiel der Beiden, und es kann ja sein, dass es jemandem hier auch gefällt: Victor Bailey
Zum Abschluss dieses Ergusses noch ein weiteres Stück aus der Tube. "Alexandra Leaving" ist ein Meisterstück, finde ich (vom Schreiben her - der Mix ist schauderhaft...). Es ist ein trauriges Lied, aber ich bin halt auch ein bisschen traurig: Alexandra Leaving
Viele Grüße von den Inseln, die seit Vorgestern wieder nicht mehr die Gewinner in der Kategorie "groteske Selbstverstümmelung" sind...
ullli




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